Längst ist er für die anderen ein offenes Buch. Immer noch arglos wirkt der junge Mann so, als sei er nie mit dem wahren Leben konfrontiert worden. Er scheint sich in einer wohlbehüteten Blase eingerichtet zu haben.
So findet er auch nichts dabei, dass es einen Menschen gibt, dem er behilflich sein kann. Gelegentlich gehen Norman und er miteinander eine Kleinigkeit essen und diskutieren die Aufgaben, die sie zu bewältigen haben. Meist dauert es nicht lange, bis sie mit rotem Kopf und glühendem Eifer ihre Möglichkeiten, in vielen Variationen erörtern, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen.
Sie haben offensichtlich die gleichen Vorlieben. Jede Chance, einen Laborplatz zu bekommen, ergreifen sie, auch füreinander.
Es vergehen einige Monate, bis Norman Jack zu sich ruft: »Schau mal, was ich hier entdeckt habe!« Damit deutet er auf einige kristalline Bröckchen hin, die er auf dem Tablett hin und her schiebt.
»Was ist das?«
»Du, ich glaube, ich habe hier etwas zusammengebraut, das uns stinkreich machen kann!« Voller Enthusiasmus und Stolz schiebt er immer noch die Krümel herum.
»Was ist das?« Jack wird langsam ungeduldig.
Norman macht ein ganz geheimnisvolles Gesicht. »Das errätst du nie!«
»Will ich auch nicht. Sag es mir ganz einfach und mach nicht so eine Show daraus.«
»Es ist eine Droge.«
»Wie, was für eine Droge?«
»Hast du schon mal von Crystal Meth gehört?«
»Blöde Frage. Natürlich! Aber das ist doch kein…«
»Nein, nein, das ist viel wirkungsvoller!«
»Du weißt schon, dass dich niemand erwischen darf. Das ist saugefährlich! Und es macht Menschen kaputt!«
Jacks Einwände interessieren Norman nur am Rande.
»Du hältst die Klappe und ich lass mich nicht erwischen. Das Zeug kann ich auch zuhause, in meinem stillen Kämmerlein herstellen. Ein Kinderspiel … Jetzt, wo ich weiß, wie die Zusammensetzung ist.«
Natürlich würde Jakob Norman nicht verraten. Sie waren inzwischen ja Freunde geworden und damit ist er noch nie reich gesegnet gewesen. Doch es ist einfach nicht in Ordnung, solche Dinge, die absolut verboten waren, dennoch zu tun. Gerne würde er seinen Freund davon abbringen, doch es gelingt ihm einfach nicht. Inzwischen meidet Norman auch seine Gegenwart. Für Jack ist klar, er würde sich keinesfalls an so etwas beteiligen.
Für heute ist Schluss. Er verlässt die Uni und geht auf dem direkten Weg zu seinem Mietzimmer. Es ist klein aber günstig. Er kommt zurecht. Normalerweise macht er noch einen Abstecher, von dem aber niemand etwas wissen muss. Doch er kann nicht mehr anders. Irre, damit überhaupt angefangen zu haben! Nun hängt er fest und weiß, wie gefährlich dieses Spiel ist.
Aber heute bezwingt er sich und ist froh, als er das Zweifamilienhaus sieht, in dem er im Souterrain wohnt. Leichtfüßig springt er die Stufen hinunter. Unten angekommen fällt ihm ein, dass er noch schnell in den Briefkasten gucken muss. Das tut er aus Gewohnheit täglich, obwohl er sich nicht erinnern kann, wann er das letzte Mal Post darin fand. Über dem Kasten ist ein Aufkleber angebracht: Keine Werbung! Das allein hält seinen Kasten frei von Nachrichten. Doch heute ist irgendwie vieles anders. Es liegt ein Brief darin, handbeschriftet von seinem Vater Johannes .
Noch unterwegs zur Zimmertür reißt er den Umschlag auf. Dann schließt er die Tür auf, geht hinein und liest immer noch.
»Lieber Jack,
heute schreibe ich dir, weil ich dir mitteilen will, dass es deiner Mutter Magda sehr schlecht geht.«
Jack denkt: »Er schreibt ›heute‹, als wenn er mir jemals geschrieben hätte. Und dass meine Mutter Magda heißt, weiß ich.«
Er ruft sich zur Ordnung. Dieses ständige Kritisieren, dessen Ziel immer Jo ist, muss er sich dringend abgewöhnen. Es ist sein Vater, wenn auch nicht immer so, wie er ihn sich gewünscht hätte. Aber gibt es ein Kind auf der Welt, das mit seinen Eltern hundertprozentig zufrieden ist?
Er verscheucht die Gedanken und liest weiter:
»Gestern habe ich sie ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte glauben, dass sie Krebs hat. Sie ist sehr schwach und Dr. Hansmann, unser Hausarzt, riet uns, schnellstens in die Klinik zu fahren. Nun ist sie dort und hat mich gebeten, euch Bescheid zu sagen. Wo Andreas steckt, weiß ich nicht. Weißt du mehr über ihn? Ich würde ihn auch gern benachrichtigen.
Also, lieber Jakob, sei so gut und versuch dich freizumachen und herzukommen. Mama wünscht sich das so sehr.
Du weißt, sie ist nicht wehleidig und wenn sie meint, es wäre an der Zeit, dann glaub ich das auch.
Du hast ja noch den Haustürschlüssel, damit du hereinkommen kannst, denn ich bin praktisch dauernd bei Mama in der Klinik.
Ich hoffe sehr, dass es mit dem Herkommen klappt.
Dein Papa«
Heute ist Donnerstag. Der morgigen Vorlesung wird er fernbleiben und schnellstmöglich losfahren. Dann hat er ein paar Tage Zeit, sich um seine zu kümmern und nachzusehen, ob Jo allein klarkommt.
Am Abend trifft er am Elternhaus ein, zeitgleich mit seinem Vater, der ihm den Vortritt lässt, um in den zu Hof fahren.
Als er aussteigt, wird sein Zustand für Jack schnell deutlich – hängende Schultern, kein Lächeln zur Begrüßung, der Händedruck ist lasch und er sieht aus, als wenn er mindestens zehn Kilo abgenommen hätte. Alles hängt irgendwie an ihm herunter.
»Schön, dass du kommen konntest. Ich war den ganzen Tag bei Mama. Ich muss jetzt erst mal was essen. Komm rein.«
Auch seine Stimme ist nicht mehr so kräftig wie damals, als Jack noch ein Kind war und der Zorn auf die Jungen ihn in Rage brachte. Da konnte man seine Stimme noch fünf Häuser weiter hören und jedes Schimpfwort gut verstehen. Manchmal hatte Simon, der im dritten Haus wohnte, ihn geneckt und gefragt, ob bei ihnen wieder einmal ein Krieg ausgebrochen wäre.
»Was ist mit Mama? Wie geht es ihr? Können wir heute noch einmal zu ihr fahren?« Jack plagt die Ungewissheit über Magdas Zustand.
Während er die Kartoffeln in die Pfanne schneidet, berichtet Jo. »Es ist schlimmer als wir gedacht haben. Der Krebs hat schon gestreut. Heute kam der Arzt zur Visite und hat gesagt, dass nicht mehr viel Zeit bleibt.«
»Was ist mit Chemo und Bestrahlung? Wird dort denn gar nichts gemacht? Man muss doch was tun!« Jakob ist besorgt und glaubt, seine Mutter sei in dieser Klinik nicht gut aufgehoben.
»Chemo macht meistens noch mehr kaputt, als schon kaputt ist. Der Arzt sagt, es wäre nur eine zusätzliche Quälerei für Mama. Er rät ihr, sich das nicht mehr anzutun.«
»Soll ich mal mit dem reden?« Jack ist sicher, wenn er eingreift, wird man eher versuchen, ihr Leben zu retten.
»Kannst du gern machen. Aber ich glaube, das hilft nicht.«
»Wir werden sehen. Und können wir heute Abend noch zu ihr fahren?«
»Nein, sie war so müde. Sie hat gesagt, sie will jetzt erst mal schlafen und ich soll gehen.«
Das Essen schmeckt beiden nicht besonders gut. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt, die sich um dasselbe Thema drehen.
Später sucht Jack sein ehemaliges Kinderzimmer auf, legt sich hin und kann lange nicht einschlafen. Warum ist er so selten gekommen? Mama hätte sich sicher gefreut, wenn er öfter erschienen wäre. Aber stets war etwas anderes wichtiger. Doch Mama – sie war immer da für ihn, immer!
Und nun ist sie so krank und er kann nichts für sie tun. Er nimmt sich vor, solange hier zu bleiben, wie sie es sich wünscht. Jetzt ist die Mama dran und nichts kann