So übernachtete er bei der Pensionswirtin, der er gestand, nicht bezahlen zu können und marschierte dann weiter. Sein Elan hatte arg gelitten. Schon jetzt begann er, sich darüber Gedanken zu machen, ob er seinen Plan, sich in der Fremde umzuschauen, wirklich noch umsetzen sollte.
Er war einige Stunden unterwegs, als ein Auto hinter ihm hielt. Zwei ziemlich Muskulöse sprangen heraus, stießen ihn in den Wald und stellten ihn zunächst zur Rede: »Was hast du gemacht? Polizei war da, du Hundesohn! Machen uns jetzt Schwierigkeiten. Dafür du bezahlst jetzt!«
Zwar nicht in einwandfreiem Deutsch aber doch sehr deutlich bearbeiteten sie ihn dann mit Fäusten und Füßen. Dann ging das Licht bei Hinnerk aus.
Der erste Eindruck, als er wieder ins Leben zurückkehrte, war, dass er auf dem Rücken eines Esels lag. Er hielt das zunächst für einen Traum, war aber ziemlich froh, als es sich als Realität entpuppte.
In der Zeit seiner Rekonvaleszenz hat er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Und nun ist seine Entscheidung gefallen, wenn Hans damit einverstanden wäre, würde er gern noch einige Zeit bei ihm bleiben und dann schauen, wie es in seinem Leben weitergehen könnte.
Jonathan und Andreas bleibt keine andere Wahl, als ihren Weg zu zweit fortzusetzen.
Sie überqueren die Alpen, bleiben in Italien immer wieder einmal in Städten hängen, die besondere ›Augenfesthalter‹ haben. So vergehen fast zehn Monate, in denen sie Prunk als auch Elend sehen. Wunderschöne bürgerliche Protzbauten, herrliche und kunstvoll erstellte Kathedralen, Amphitheater, in denen Menschen und Tiere ihr Leben ließen. Ihr Wert blieb erhalten, doch ihre Vergangenheit ist grauenhaft. Sie laufen durch Alleen und Straßen, in denen Touristen billige Ware zu horrenden Preisen angeboten wird. Hier sitzen die Entfremdeten, die Ausgemusterten, die versuchen, die Herzen der Menschen zu erreichen. Ihnen das Gefühl zu ermöglichen, ein Guter zu sein.
Die beiden Deutschen verlaufen sich auch in Gassen, die selten ein Reisender betritt. Hier ist Italien arm. Menschen in Kleidern, die oft eine falsche Größe haben, Alte, denen Zähne fehlen, was man beobachten kann, wenn sie trotz ihres Elendes lächeln, sobald man die faltige, schmutzige Hand mit einer Münze oder einem kleinen Schein füllt.
In Venedig stehen sie am Ufer des Canale Grande und sehen auf den trüben Fluten ein aufgedunsenes totes Schwein vorübergleiten. Ein Gondoliere versucht, ihm auszuweichen und die Touristen von diesem Anblick abzulenken, indem er auf die gegenüberliegende Seite zeigt und laut und fröhlich erklärt, was sich dort vor Jahrhunderten zugetragen hat.
Sie schauen auf die Seufzerbrücke und Jonathan fällt in diesem Moment die Geschichte von Casanova ein. Er war hier inhaftiert, in den berühmt-berüchtigten Bleikammern, die sich im Palast befanden. Er hat ein Buch darüber geschrieben, wie ihm die Flucht gelang. Ob alles, was er da zu Papier gebracht hat, der Realität entsprach, weiß man bis heute nicht. Er hat diesen Gang über die Seufzerbrücke jedenfalls nicht antreten müssen. Die gab es zu seiner Zeit noch nicht. Sie wurde einige Jahre nach seinem Tod die Verbindung zwischen Dogenpalast und Gefängnis. Hier konnten die Verurteilten noch einmal kurz die Freiheit durch vergitterte Fenster sehen.
Der Petersdom – Reichtum und Glanz innen wie außen. Die beiden jungen Männer fragen sich, in welchem Verhältnis dieser Prunk und die Armut im Lande stehen und wie sich die Nächstenliebe, die hier so gern gepredigt wird, mit dem Vegetieren der Elenden vereinbaren lässt.
Dann der äußerste Süden Italiens. Kalabrien. Eine Freundin von Magda, Andys Mutter, hat immer, wenn sie zusammen saßen, von ihrem Kalabrien erzählt, der wunderbarsten Region der Welt. Hier ist es warm, nicht so kalt wie in Deutschland.
Die Kinder laufen barfuß durch die Straßen, die oftmals nur Sandwege sind. »Du kannst das Meer schmecken.« Mit ihren ständigen Schilderungen konnte sie sowohl in Magda als auch in den Kindern den Wunsch entzünden, einmal ihre Heimat zu besuchen. Sie war so fröhlich und sah so glücklich aus, manchmal wie entrückt, wenn sie davon schwärmte. Sie hatte ein Haus und viele Verwandte – der Onkel rechts, die Tante links. Die ganze Straße schien ihre Straße zu sein. Doch einige waren nach Milano gezogen. Dort bekam man Arbeit. Und sie war noch weiter gezogen, mit ihrem Mann, der viel älter war und unbedingt noch zu Geld kommen wollte. Freunde von ihm, die schon vor Jahren nach Deutschland ausgewandert waren, hatten ihm diese Idee in den Kopf gesetzt und nun sollte ein neues, gutes Leben beginnen.
Die junge Frau fand sich nicht zurecht. Ihr Mann eröffnete eine Pizzeria, versuchte, Kunden zu locken, verstand die Sprache und die Mentalität der Deutschen nicht, machte Schulden und ging in eine andere Stadt. Hier war es nicht viel anders. Er probierte es in vier verschiedenen Städten und stets war das Ergebnis das gleiche. Seine Frau bekam dunkle Ränder unter den Augen, ihr sonniges Lächeln, das ihn in Kalabrien verzaubert hatte, war verschwunden. Vorwürfe und laute Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung, bis sie von ihm weglief.
Ein anderer Italiener, jünger, schöner, mit vielen Flausen im Gepäck, warb um ihre Gunst und erhielt sie auch. So lernte Magda sie kennen. Auf einem Parkplatz weinte Antonella sich an ihrer Schulter aus, bis die Bluse durchnässt war, klagte ihr Elend, das das größte Elend der ganzen Welt war.
Sie tranken einen Cappuccino miteinander. Von dem Tag an war Andreas Mutter die weltbeste Freundin der traurigen und enttäuschten Italienerin.
Der Neue hielt nicht lange durch. Es war auch schwer, ihren Redeschwall zu ertragen. Als sie begann, bei Jo und Magda ein und aus zu gehen, war sie fest entschlossen, zurück nach Kalabrien ins Glück zu gehen.
Ihr Mann kam ihr zuvor. Er ließ die Pizzeria sein und verschwand bei Nacht und Nebel in Richtung ›Bella Italia‹. Er hinterließ einen nicht unerheblichen Berg an Schulden und gab der Bank die Adresse des Lovers von Antonella.
Vier Monate später rettete ihn auch das Nachhause kommen nicht vor dem Herzinfarkt. Er wurde von einem Neffen ins Krankenhaus gebracht, zwei Stunden später lebte er nicht mehr.
Antonella fuhr zur Beerdigung und blieb gleich dort. Sie hatte keine Kleidung dabei und ihr Hausrat in Deutschland blieb einfach stehen. Um- und abmelden hatte sie vergessen und ihre weltallerbeste Freundin in Deutschland auch.
Als die beiden Freunde nun durch diesen Landstrich wandern, beginnen sie, Antonellas Sehnsucht zu verstehen. Eine ganz eigene Welt liegt vor ihnen, alte Buchen- und Pinienwälder, die tiefblaue Seen umarmen, Felsformationen auf denen ein Schloss thront, Dörfer, deren Häuser wie an den steinigen Berghang geklebt wirken.
Berge, die ihren nackten Fels in den Himmel strecken, haben gegen Abend einen lila Farbton.
So aufregend, wie dieses Land sind auch die Menschen. Bis in die Nacht hinein sind sie wach, selbst die Kinder finden nicht ins Bett. Es ist lautes Leben in den Orten.
Jonathan und Andreas finden einen Weg in die Kiefernwälder. Hier sollen noch Wölfe, Wildkatzen und Schlangen wohnen. Sie sind vorsichtig. Plötzlich zieht von einem auf den anderen Moment ein Unwetter über die Region. Es blitzt, kracht und beginnt, in Strömen zu regnen. Dort ist ein einigermaßen fester Weg. Sie laufen hinüber und folgen ihm, bis sie zu einem Kloster kommen.
Die Mönche sind liebenswürdig und bitten sie freundlich in das alte, aber wettersichere Gebäude. Der offene Kamin im Aufenthaltsraum zieht die beiden durchnässten Wanderer an. Die Mönche bringen ihnen Decken und fordern sie auf, sich auszuziehen. Ihre nassen Sachen werden in die Nähe des Kamins gehängt und nun sitzen die zwei in warme Decken gehüllt, mit einem Tee in der Hand sehr zufrieden auf den mit Schaffell gepolsterten Stühlen.
Sie werden aufgefordert, die Nacht über zu bleiben und sie lassen sich nicht lange bitten.
Ihre Zelle ist karg eingerichtet, doch das Bett ist weich und warm. Sie werden durch ein Klopfen geweckt und stellen fest, dass schon jemand in der Nacht oder am frühen Morgen ihre inzwischen trockene Kleidung hereingebracht und über den einzigen Stuhl gehängt hat.
Das Frühstück besteht aus scheinbar selbst gebackenem weißen Brot, Butter und Honig. Olivenöl steht auf dem Tisch