Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller. Veronika Bicker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Veronika Bicker
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783862825028
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Tochter, doch als sie das verwirrte Gesicht des Fahrers bemerkte, lächelte sie nur wieder. Sie schuldete ihm wohl eine Erklärung. »Herr Dieck ist ein guter Bekannter von mir. Ein Freund, könnte man sagen.« Eigentlich ein Gast, kein Freund. Ein lieber, langjähriger Gast im Hotel. Freunde habe ich keine. Doch das sollte sie vielleicht nicht vor dem Taxifahrer erläutern. »Er hat mir angeboten … nun, den Turm zu hüten, bis ich hier etwas Eigenes finde. Er braucht jemand, der ihn in Schuss hält und ab und zu potentielle Käufer herumführt. Ich habe das Angebot angenommen, ohne mir den Turm anzusehen. Meine Tochter und ich haben …« Nein, wenn sie auf diese Weise weitersprach, würde sie zu viel preisgeben. »Wir hielten es beide für eine gute Idee«, log sie. »Wir haben vor längerer Zeit mal ein paar Wochen in dieser Gegend verbracht und ich habe gute Erinnerungen daran.« Sie lächelte. »Ich wollte mich überraschen lassen.«

      Ihr Fahrer nickte, aber er sagte nichts mehr. Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen. Marit konnte vom Meer her die Wellen hören. Es war nur ein sehr leises Geräusch, da der Wind immer noch ziemlich schwach ging, doch es war eindeutig Meeresrauschen.

      Das werde ich jetzt immer haben, ging es ihr durch den Kopf. Immer Wellen, immer Salz in der Luft, immer Wind, immer Möwenschreie, immer Boote am Horizont, Rippeln auf dem Wasser und im Sand, Wattwürmer, Tang, Stürme, Touristen im Sommer und Dorfbewohner im Winter.

      Es war eine seltsame Vorstellung, schwer zu glauben. Das alles waren Dinge, die zum Sommer gehörten, zum Urlaub, nicht zum täglichen Leben. Und doch, natürlich gab es Menschen, die diesen Alltag lebten. Warum sollte sie es also nicht ebenfalls können?

      Die Straße unter den Rädern des Volvos stieg auf einmal an. Marit wandte sich dem Weg vor sich zu und sah, dass sie abermals im Begriff waren, den Deich zu queren, dieses Mal auf einer Straße, die schräg hinaufführte statt mittendurch. Aber nein, sie überquerten ihn nicht, sondern folgten der Deichkrone ein kurzes Stück, bevor der Fahrer das Auto auf einem Parkplatz ausrollen ließ.

      »Da sind wir.« Er stellte den Motor ab. Marit reckte den Hals, um durch das Autofenster nach oben sehen zu können. Eine rote Ziegelmauer ragte vor ihr auf. Irgendwie hatte sie damit gerechnet, dass der Turm rot-weiß sein würde. Sie glaubte, ihn so vom letzten Mal in Erinnerung zu haben, als sie in der Gegend gewesen war. Aber vielleicht ließ sie sich auch nur vom gängigen Klischee täuschen. Und hatte Herr Dieck nicht etwas von einer neuen Fassade gesagt?

      »Danke.« Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Beifahrertür und Marit stieg aus ihrem Sitz. Sofort schlug ihr wieder kühle Seeluft entgegen. Der Wind wehte hier, direkt an der See, schon stärker und das Wellenrauschen war lauter als zuvor.

      »Sollte Sie jemand hier erwarten?« Der Fahrer war ebenfalls ausgestiegen und sah sich zweifelnd um.

      »Der Schlüssel liegt unter der Türmatte.« Marit lächelte. »Furchtbares Klischee, ich weiß.«

      »Und Ihr Auto?«

      »Ich habe keins.«

      Ein Blinzeln. Die Hände in den Parkataschen zuckten kurz. »Wie wollen Sie ins Dorf kommen, um einzukaufen?«

      Marit deutete auf ein himmelblaues Fahrrad, das unter dem Dach des großzügigen Carports rechts vom Leuchtturm stand. »Bis Nordersiel sind es nur ein paar Kilometer. Und schwerere Sachen kann ich mir liefern lassen. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles durchdacht.«

      Der Mann hob die Schultern. Marit glaubte zu wissen, was er dachte. Wahnsinnige sollte man einfach machen lassen. Immerhin bewegte ihn Marits Situation dazu, sich nützlich zu machen. Er öffnete den Kofferraum und holte ihr Gepäck heraus, auch wenn das keine besondere Anstrengung bedeutete. Dann begleitete er Marit bis zur Eingangstür und vergewisserte sich, dass sie tatsächlich einen Schlüssel unter der Fußmatte hervorzog.

      »Na dann«, meinte er schließlich.

      »Wie viel bekommen Sie?« Marit zog ihren Geldbeutel hervor.

      »Zwanzig?« Es klang mehr wie eine Frage als eine feste Aussage. Marit gab ihm dreißig.

      »Behalten Sie es! Vielen Dank.« Sie lächelte, doch insgeheim hoffte sie, dass er endlich in sein Auto steigen und davonfahren würde. Er war kein unangenehmer Typ, aber sie wollte jetzt allein sein. Allein mit der Stille und dem Meer.

      Der Mann sah noch einmal von Marit zum Leuchtturm und zurück, dann hob er die Schultern und begann, in seinen Parkataschen zu wühlen. Schließlich förderte er eine etwas verknickte Visitenkarte zu Tage und hielt sie Marit hin. »Falls Sie was brauchen. Ich fahre nicht nur zum Bahnhof. Sie können mich bis spät am Abend erreichen.«

      Marit nahm die Karte, mehr aus Höflichkeit als in dem Gefühl, sie wirklich zu brauchen. »Peer Thomas. Privater Taxidienst« stand darauf, darunter eine Handynummer. Die Karte war aus cremefarbenem, festem Papier und wirkte ziemlich edel, besonders wenn man sich im Vergleich dazu den Mann selbst ansah, doch Marit lächelte ihn dankbar an. »Dann werde ich mir jetzt mal meinen Turm ansehen«, sagte sie und dieses Mal verstand er den Hinweis. Er nickte ihr noch einmal zu, dann schlurfte er zu seinem Volvo zurück und ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen. Marit wartete ab, bis das Auto gewendet hatte und den Deich hinuntergerollt war, bevor sie ein paar Schritte von der Eingangstür zurücktrat, sich wieder zu ihrem Turm umdrehte und ihn zum ersten Mal wirklich in Augenschein nahm.

      Er war kleiner, als sie sich einen richtigen Leuchtturm vorgestellt hatte, etwas gedrungen, wie ein alter Mann, der stur auf dem Deich hockte und nicht daran dachte, sich von dort vertreiben zu lassen. Die Fassade rundherum bestand aus roten Ziegeln, wie bei den meisten Häusern hier in der Gegend, und die Fenster waren erstaunlich groß und modern. Vielleicht nachgerüstet. Das Dach streckte sich trotzig dem Wind und den Wolken entgegen und Marit konnte die Glasfenster direkt darunter mehr erahnen als wirklich sehen. Sie fragte sich, ob sie in die Beleuchtungskammer gehen konnte oder ob der Zutritt untersagt war. Sie hatte Herrn Dieck nicht gefragt, damals war es ihr nicht wichtig gewesen. Aber jetzt verspürte sie ein Kribbeln, das durch ihren ganzen Körper lief. Sie musste einfach dort hinauf.

      Mit fest entschlossenem Schritt ging Marit auf die Eingangstür zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.

      Die Tür schwang auf und für einen Moment hielt Marit den Atem an. Bis jetzt hatte sich noch alles angefühlt wie eine angenehme Urlaubsreise. Aber nun wurde ihr klar, dass die Tür des Leuchtturms auch die in ihr neues Leben war. Ein Schritt ins Ungewisse lag vor ihr.

      Marit war sich plötzlich sicher, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben, als sie das Angebot angenommen hatte. Sie hätte im Hotel bleiben sollen. Janna hatte es ihr angeboten und immerhin hatte sie selbst es zu dem gemacht, was es heute war. Und auch wenn ihre Tochter jetzt alles veränderte — warum konnte Marit das nicht akzeptieren?

      Es war ein Fehler und dieser würde sich jetzt offenbaren. Jannas Stimme klang noch allzu deutlich in ihren Ohren. »Mama, du wirst auf die Nase fallen. Und ich habe nicht die Zeit, dir zu helfen, wenn das passiert. Du weißt doch, wie es ist mit dem Hotel.« Ja, sie wusste, wie es mit dem Hotel war. Sie hatte selbst lang genug darin geschuftet, Tag für Tag, ohne sich richtige Pausen zu gönnen. Und Janna tat es ihr nun gleich.

      Für einen langen Moment wagte Marit nicht einmal, in den Innenraum zu sehen. Sie musste das Bedürfnis unterdrücken, sich einfach wieder umzudrehen und fortzugehen, zurück in die Sicherheit ihres alten Lebens.

      Ich kann das. Ich habe es mir verdient. Sie atmete tief durch. Ab jetzt geht es vorwärts.

      Das bedrückende Gefühl legte sich ein wenig, als Marit den ersten Schritt über die Schwelle tat und sich umsah.

      Der Raum war größer, als sie von außen vermutet hätte, rund und komplett mit hellem Holz getäfelt. Der Fußboden bestand aus hochwertigem Parkett. Eine Garderobe, ein kleiner Holztisch mit einer Schale aus poliertem Stein, dann weiter hinten ein massiver Esstisch mit vier Stühlen und eine offene Küche mit steinernen Arbeitsplatten. In der Mitte des Raumes führte eine alte Metallwendeltreppe nach oben und verschwand in der Decke. Es war modern hier, freundlich, und roch nach Holzpolitur. Dennoch war es kein Raum, der Marit auf Anhieb sympathisch war. Er war einfach zu exakt. Alle Möbel waren neu und passten