Frau Booken legte den Stickrahmen auf den Tisch und sah Marit mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. »Ich habe Sie doch nicht beunruhigt, hoffe ich?«
Marit schüttelte den Kopf und versuchte sich an einem leichtfertigen Lachen. »Nein … nein, ich glaube nur nicht ganz an Geister, müssen Sie wissen.«
Die Frau zuckte abermals mit den Schultern. »Das ist natürlich jedem selbst überlassen«, meinte sie. »Ich weiß nur, dass Janna sich sehr für Tomme interessiert hat, und … inzwischen glaube ich, dass er sich auch sehr für sie interessiert hat.« Sie lächelte jetzt nicht mehr, sondern musterte Marit mit einem beinahe feierlichen Gesichtsausdruck. »Sie können ja gerne ins Dorf zurückfahren und sich ein bisschen umhören. Janna ist nicht die Einzige, die den Geist gesehen hat. Es gibt massenhaft Erzählungen über ihn. Anja, die das Hafencafé leitet, hat ihn mehrfach gesehen, zumindest sagt sie das. Sie hat angeblich sogar ein Foto von ihm, aber das habe ich nie gesehen. Sie zeigt es nur gegen eine Gebühr. Meistens sind es Touristen, die das bezahlen.« Sie lachte jetzt wieder. »Wir hier brauchen keinen Beweis, dass es den Jungen gibt. Zumindest nicht diejenigen, die an ihn glauben.«
»Und das tun Sie?« Marit merkte, wie sie ihre Ruhe zurückgewann. Sie leerte ihre Kaffeetasse und warf Frau Booken über deren Rand hinweg einen scharfen Blick zu. Wie ein Spiegelbild trank auch Frau Booken ihre Tasse leer. »Ich habe ja schon gesagt, vor Janna habe ich es auch für eine Sage gehalten. Aber danach … vor allem nachdem … nach diesem Sturm …« Ihre Stimme verlor sich und sie wirkte ein bisschen verlegen. »Jannas Geschichte hat mich dazu gebracht, mich mit Geistern zu beschäftigen«, sagte sie schließlich. »Ja. Ich glaube, dass es sie gibt. Auch wenn ich noch keinen gesehen habe.«
Marit erhob sich. »Vielen Dank für den Kaffee«, sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht allzu unfreundlich klang. Ein seltsamer Zorn begann, sich in ihr auszubreiten, und sie wollte ihn wirklich nicht an dieser harmlosen Frau auslassen.
Aber … was hatte sie sich dabei gedacht, Janna diese Flausen von einem Geist in den Kopf zu setzen? Wegen dieser Frau hätte Janna sterben können. Immerhin war es Tomme gewesen, wegen dem Janna aufs Meer hinausgefahren war. Wieder sah Marit Jannas blasse Lippen vor sich. Tomme. Ein unhörbares Wort, aber Marit hatte sie dennoch verstanden.
Nein.
Schluss, sie konnte nicht Frau Booken die Schuld für diesen Tag geben, nicht die Schuld für die übermäßige Fantasie eines achtjährigen Mädchens und nicht dafür, dass eine harmlose Sage eine solche Reaktion ausgelöst hatte.
Frau Booken jedoch schien etwas von dem Zorn, der in Marits Innerem brodelte, zu spüren. »Es tut mir Leid«, sagte sie leise. »Ich wollte Sie wirklich nicht aufregen. Am besten ist es, Sie vergessen das Ganze. Es ist ja auch nicht wichtig, ob Janna nun einen Geist gesehen hat oder nicht, nicht wahr? Immerhin ist die Sache gut ausgegangen und Janna ist ja auch nicht hier, nicht wahr?« Sie versuchte wieder ein Lächeln, doch es gelang ihr nicht ganz so offen und herzlich wie zuvor. »Was macht Janna denn eigentlich heute so?«, versuchte sie, das Gespräch wieder in geregelte Bahnen zu lenken.
»Sie ist zu Hause.« Der unbestimmte Zorn machte Marits Stimme harsch. »Sie hat das Hotel übernommen. Da hat sie keine Zeit für Urlaub.«
Es gab nie Zeit für Urlaub. Damals nicht und heute nicht. Bis auf dieses eine Mal. »Ich muss jetzt wieder los, ich wollte noch …« Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen, denn tatsächlich hatte sie keine Ahnung, wie sie ihn beenden sollte.
»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.« Frau Booken brachte Marit zur Tür, versicherte ihr noch einmal, wie sehr sie sich gefreut hatte, sie wiederzusehen, dann schloss sich die Tür mit einem Klick.
Marit schwang sich auf ihr Rad und trat so fest in die Pedale, dass es geradezu einen Satz nach vorne machte. Loser Kies spritzte unter den Reifen hinweg nach allen Richtungen und als Marit den Weg erreichte, der zum Dorf führte, fühlte sie sich schon erschöpft. Dennoch fuhr sie in geradezu halsbrecherischem Tempo weiter. Der Fahrtwind blies ihr die Haare aus dem Gesicht und sie konnte spüren, wie ihr der Schweiß in kleinen Tröpfchen auf die Stirn trat. Das Schild zum Strandzentrum flog an ihr vorbei, der Deich verschwamm vor ihren Augen zu einer grüngelben Mauer und Marit merkte zu ihrer Überraschung, dass ihre Augen voller Tränen standen. Heiß liefen sie ihre Wangen hinunter und verwehten irgendwo hinter ihr im Wind.
Warum weine ich?
Doch der Gedanke hatte keine Zeit, sich weiter zu stricken, denn ein durchdringendes Hupen und das Kreischen von Reifen auf dem Asphalt rissen Marit aus ihren Überlegungen. Ihr Herz machte einen entsetzten Hüpfer, als sie einen riesigen schwarzen Schatten von der Seite auf sich zurasen sah.
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