Der Mörder. Georges Simenon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georges Simenon
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Die großen Romane
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783455005257
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zu gehen? Er kannte den Richter, Antoine Groven. Auch er war Billardspieler, allerdings ein schlechter, denn er war kurzsichtig. Er würde am einen Ende des Tisches sitzen, Kuperus und sein Anwalt am anderen. Ob ihn der Richter auch dann noch Hans nennen würde?

      Er nahm seine Arzttasche und zog seinen Pelz an, um in der Stadt Krankenbesuche zu machen. Auf dem großen Kanal lagen Dutzende von Schiffen eng beieinander und miteinander vertäut, das Beben ihrer Schwerölmotoren erfüllte die Luft. Es war Viehmarkt, und man lud die Tiere aus, die auf den Kanälen vom Land in die Stadt transportiert worden waren.

      Kuperus musste den Rathausplatz überqueren. Er warf einen Blick auf Schutters Haus. Keiner außer dem Rechtsanwalt leistete sich einen Diener mit gestreifter Weste und einen Butler, der ihn im Frack und mit weißen Handschuhen bediente!

      Kuperus begnügte sich mit Neel und einer Putzfrau, die zweimal in der Woche kam.

      Und wenn die Putzfrau den anonymen Brief geschrieben hatte? Er hatte sie sich nie richtig angesehen. Er kannte sie eigentlich nicht. In seinen Augen war sie eine ziemlich hässliche, kleine, einfältige Frau, ein Haufen schwarzer Röcke mit ewig wirrem Haar …

      … Ein Scharlachfall … Anderswo kündigte sich eine Entbindung an, bestimmt etwas für den nächsten Tag, vielleicht auch für die Nacht? … Im Dezember hatte man ihn genau sechsundzwanzigmal nachts zu einer Entbindung gerufen!

      Als er um fünf Uhr endlich ins Café trat, war er erschöpft, aber ohne ersichtlichen Grund. Denn er hatte nicht mehr Konsultationen und Krankenbesuche als an anderen Tagen hinter sich. Nur war in ihm so etwas wie ein Uhrwerk, das zu schnell lief.

      Er stellte die Arzttasche in die gewohnte Ecke. Der alte Jef nahm ihm den Pelz ab. Er drückte Pijpekamp, Van Malderen und de Loos die Hand.

      »In diesem Winter wird man gar nicht Schlittschuh laufen können«, sagte Van Malderen, der Rechtsanwalt. »In der einen Nacht friert es, und gleich darauf taut es wieder …«

      In dem ruhigen Raum gab es eine Uhr, die auf Kuperus schon immer großen Eindruck gemacht hatte. Sie war sehr hoch. Das Zifferblatt, eine blassgraue Scheibe mit römischen Ziffern, hatte nichts Auffallendes. Aber da war noch das Pendel, ein gewaltiges kupfernes Pendel, auf dem sich immer ein leuchtender Widerschein zeigte, und wenn man dieses Pendel ansah, schien es, als seien dort, aber nur dort, die Sekunden länger als anderswo.

      Daran war im Übrigen etwas Wahres. Es war mild. Der Rathausplatz mit seinen kleinen holprigen Pflastersteinen war bis auf zwei oder drei Gestalten menschenleer, so wie man es auf Landschaftsbildern in Museen sieht. Vom Rathaus war der gotische Turm mit seinen goldenen Ecktürmchen zu erkennen.

      Und Jef schritt auf einem Parkett, das glatter war als jedes andere. Die Tische waren poliert. Für die Gläser gab es kleine Pappuntersetzer. Alles glänzte. Alles lebte in einer zufriedenen Stille, auch Loos, der Wirt, der sich, wenn er keine Gäste hatte, an dem viereckigen Ofen niederließ, seine Brille aufsetzte und stundenlang im Telegraaf las.

      Drei oder vier Männer konnten stumm beieinander sitzen. Nur ab und zu wurde ein Satz gesprochen. Es wurde geraucht. Manche, wie Van Malderen, hatten ihre Pfeife im Pfeifenständer und ihre Tabakdose hinter der Theke. Doch der Geruch von Zigarren herrschte vor, vermischt mit Geneverdunst.

      »Schutter ist nicht gekommen?«

      Das hatte Kuperus gesagt und sich dabei eine Pfeife angezündet. Durch den Glimmer sah er ins Feuer. Über dem großen, für Wettkämpfe benutzten Billardtisch mit seinen kunstvoll geformten Füßen brannten schon die Lampen.

      »Seit gestern hat er sich nicht blicken lassen …«

      Loos stocherte im Feuer herum und redete ohne Eile weiter, währenddessen er in kurzen Zügen weiterrauchte.

      »Das Merkwürdige dabei ist, dass sein Butler gerade hier war und mich fragte, ob wir nichts von ihm wüssten …«

      Van Malderen blinzelte. Er war derjenige in der Gruppe, der die meisten Witze auf Lager hatte, und er erzählte sie immer auf eine unheilschwangere Weise, die gut zu seiner Persönlichkeit passte. Denn er war mager und farblos, er kleidete sich absichtlich wie ein protestantischer Pastor.

      »Schon wieder eine Frau …«, seufzte er. »Ich für mein Teil kann da ganz ruhig sein. Frau Van Malderen ist so hässlich, dass man mir nie Hörner aufsetzen wird …«

      Und das stimmte! Und er war davon entzückt!

      »Wer spielt eine Partie mit mir?«, schlug Kuperus vor.

      »Um was spielst du?«

      »Einen Gulden …«

      Van Malderen nahm die Herausforderung an, beide zogen ihre Jacketts aus und schlangen Gummibänder um ihre Hemdsärmel. Jeder hatte sein eigenes Queue, das im Ständer festgeschlossen war.

      »Zweihundert Punkte!«

      Etwa in der Mitte des Spiels kamen zwei oder drei Kameraden dazu, darunter der Tabakhändler, der im Nachbarhaus wohnte und der sich einen Spaß daraus machte, einem bei der Begrüßung eine Zigarre in die Hand zu drücken.

      »Probier die mal …«

      Kuperus gewann. Eine Sechzigerserie für den Anfang … In einem großen Spiegel sah er sich spielen, und er konnte keine Bewegung machen, ohne sich dabei zu betrachten.

      Sich vorzustellen, dass er Schutter getötet hatte! An seine Frau dachte er weniger. Das war fast weniger schlimm. Und vor allem hatte es nur auf sein eigenes Leben Auswirkungen!

      Während Schutter! … Über ihn wurde gerade gesprochen, als man die Punkte zählte.

      »Der Bürgermeister hat mir gesagt, dass er sich in einem halben Jahr bei den Wahlen aufstellen lassen will …«

      »Auf welcher Liste?«

      »Auf der fortschrittlichen, natürlich!«

      Denn um sie zu ärgern, oder aus Snobismus, trug Schutter, der von einem Butler in weißen Handschuhen bedient wurde, revolutionäre Ansichten zur Schau.

      So war er eben!

      »Er ist ein Schwätzer …«, stieß Kuperus hervor und beugte sich über den Billardtisch.

      Er dachte: ›Er war ein Schwätzer!‹

      »Er ist ein außerordentlich intelligenter Mensch … Er macht, was er will … Was er auch anpackt, gelingt ihm … Wenn er kandidiert, wird er auch gewählt …«

      »Ich wette, dass er nicht gewählt wird!«

      Das war immer noch die Stimme von Kuperus, der eine neue Serie begann und gleichzeitig rechnete.

      »Ich denke doch, dass er Chancen hat … Der jetzige Abgeordnete ist zweiundsiebzig …«

      »Und Schutter?«

      »Er ist so alt wie ich …«

      Wieder Kuperus! Er konnte nicht anders. Und während er sprach, warf er einen Blick in den Spiegel, um seine Physiognomie zu studieren.

      Es war großartig! Er war bestens in Form! Die Schwellung vom Morgen war verschwunden. In den Mundwinkeln hatte er etwas wie den Schatten eines Lächelns, aber eines so undeutlichen Lächelns, dass nur er allein es wahrnehmen konnte.

      »Vierundvierzig?«

      »Sechsundvierzig …«

      »Er sieht jünger aus … Er pflegt sich freilich auch …«

      »Schon im Gymnasium«, behauptete Kuperus, »polierte er sich die Fingernägel und nahm täglich ein Bad …«

      Es war so weit! Zweihundert Punkte! Er hatte gewonnen und steckte den Silbergulden ein, den Van Malderen aus seinem Geldbeutel zog und dabei den Geizkragen spielte.

      »Ich werde etwas erfinden müssen, um meiner Frau diese enorme Ausgabe zu erklären«, seufzte der Anwalt.

      Es machte ihm Spaß, Theater zu spielen, denn jedermann wusste, dass seine Frau niemals wagen würde, ihm Vorhaltungen