Der Mörder. Georges Simenon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georges Simenon
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Die großen Romane
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783455005257
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Neues in Amsterdam?«

      Und er berichtete von den Neuigkeiten, die er gerade in der letzten Ausgabe des Telegraaf gelesen hatte …

      Ein Zufall warf alles über den Haufen. Hindeloopen und Workum wurden wie üblich durchfahren. Ein paar Minuten vor der Ankunft in Sneek musste der Zug aber wegen etwas Unvorhergesehenem die Fahrt verlangsamen und sogar ganz anhalten.

      Es war so viel Reif auf den Scheiben, dass Kuperus nicht nach draußen schauen konnte. Er öffnete die Tür, sah den Schornstein einer Käserei und ein Netz halb zugefrorener Kanäle, und er wusste, wo er war.

      Bis zu Schutters Bungalow waren es nicht einmal fünfhundert Meter.

      Er überlegte nicht. Er nahm seine Mappe – eine automatische Geste, die er auch unter den dramatischsten Umständen nicht unterlassen hätte. Er stieg aus, rutschte die Böschung hinunter und kam unten an, während der Zug wieder anfuhr.

      Über den weiteren Verlauf der Ereignisse zu sprechen ist fast unmöglich. Doktor Kuperus hatte beschlossen, alles zu Ende zu bringen. Es war so gut wie zu Ende. Zu Ende für alle drei, für Schutter (der mit Vornamen Cornelius hieß), für Alice (die den Namen Kuperus trug) und für Hans Kuperus selbst.

      Der Beweis war der Revolver, der ganz kalt, als wäre er aus Eis, in seiner Tasche lag. Es ging nicht um einen flüchtigen Gedanken. Er hatte ein Jahr lang überlegt. Er wusste, was er tat.

      Rings um ihn Schnee und Schatten, die von den größtenteils stillgelegten Kanälen kamen. Ein Licht in der Dunkelheit, das einzige, das Licht von Schutters Bungalow.

      Er war also da! Es war also alles gewissermaßen im voraus beendet.

      Nachdem der Zug, roten Feuerschein in den Himmel speiend, verschwunden war, marschierte er los. Er war nun nicht mehr weit vom Haus entfernt und ging behutsamer weiter, damit der hartgefrorene Schnee, der hier viel dicker lag als in Amsterdam, nicht knirschte.

      Es war so kalt, dass er sich fragte, ob sein Zeigefinger nicht zu klamm wäre, um den Abzug durchzudrücken.

      Die Stadt war weit weg: Ihre Lichter verwandelten sich in der Luft in einen gelblichen Lichthof.

      Schutter brüstete sich damit, dass er alle Frauen haben konnte! Alice gehörte auch dazu! Alice kam in den Bungalow wie die anderen!

      Er konnte sich mühelos davon überzeugen. Man vertraute so sehr auf die einsame Lage, dass man es nicht für nötig hielt, die Jalousien zu schließen.

      Kuperus näherte sich geräuschlos, drückte die Stirn an die Scheibe und erblickte seine Frau im Unterrock. Sie trank etwas, während Schutter seine Krawatte band.

      Es war ein hübscher Raum. Kein Schlafzimmer, sondern eine Art Atelier mit Fotos von Schutter. Schutter in allen Ländern der Welt und in allen Aufmachungen. Auf einem Tisch Gläser mit Likör.

      Alice zog sich wieder an, als habe sie sich dort schon immer angezogen! Sie redete! Er hörte nicht, was sie sagte. Er sah nur die Personen. Der Mann rauchte eine von jenen Zigaretten, die er sich direkt aus Ägypten kommen ließ, womit er gerne prahlte, und die doch nicht besser waren als gewöhnliche holländische Zigaretten.

      Die Mappe unterm Arm war ihm lästig, aber Kuperus ließ sie nicht los. Er spürte, dass er sie jetzt nicht loslassen durfte. Er musste ganz und gar er selbst bleiben.

      Was sagten sie? Sie plauderten einfach miteinander, ohne Koketterie, wie ein altes Liebespaar. Vor dem Spiegel, der ihr vertraut zu sein schien, legte sie ein wenig Puder auf.

      Sie musste ihrem Partner Vorwürfe machen, vielleicht eine Eifersuchtsszene, denn ein bitterer Zug trat auf ihr Gesicht und ein mattes Lächeln auf das des Mannes.

      Er steckte seine Perle an seine Krawatte. Er hätte es für entwürdigend gehalten, keine Perle zu tragen.

      »Das Geschenk eines Maharadschas …«, hatte er in der Billardakademie gesagt.

      Die Bewegungen beschleunigten sich. Alice wollte offensichtlich gehen. Beide gingen auf die Tür zu. Kuperus fror. Er hatte den Handschuh von seiner rechten Hand gezogen, und diese Hand war steif gefroren.

      Finsternis. Alle Lampen auf einmal ausgeschaltet. Die Tür, die Schutter sorgfältig wie ein Kleinbürger verschloss, während seine Begleiterin wartete …

      War das vielleicht der richtige Moment?

      Obwohl er den Finger am Abzug hatte, schoss der Doktor nicht.

      Und das Paar ging weg, betrat den Treidelpfad, der seit langem nicht mehr benutzt wurde, denn er führte an einem von Röhricht überwucherten Kanal entlang, auf dem keine Schiffe mehr verkehrten.

      Sie gingen untergehakt … Mondschimmer am Himmel …

      Kuperus ging hinter ihnen her, holte auf …

      Er schoss noch immer nicht. Sein Zeigefinger klebte an dem eiskalten Stahl. Vielleicht hatte er sich schon zu lange mit diesem Gedanken beschäftigt und sich auf alles eingestellt?

      Denn er hatte sich darauf vorbereitet, in den Bungalow hineinzugehen, sogar eine Ansprache zu halten …

      Zwei Schatten bewegten sich vor ihm … Er war zehn Meter von ihnen entfernt … Es war Alice, die alles Weitere auslöste, die stehen blieb und sich voller Unruhe umwandte. Und um sie zu beruhigen, drehte sich der andere ebenfalls um.

      Da schoss Kuperus … Einmal … Zweimal … Noch einmal, weil Schutter nicht ganz hingestürzt, sondern nur in die Knie gesunken war.

      Er sagte sich, dass Schutter vielleicht Schmerzen litt, und schoss aus nächster Nähe das Magazin leer, um ihnen ein Ende zu setzen.

      Sein Herz klopfte, in der Brust spürte er die Beklemmung, vor der er sich so sehr fürchtete, und er musste mehrere Minuten regungslos bei ihnen verharren, die Hand auf die linke Brustseite gepresst.

      Um sich umzubringen, hätte er ein neues Magazin einlegen müssen.

      Und dann? …

      Ein Gedanke herrschte vor: Schutter war tot!

      Ein anderer hatte sich dazwischengedrängt: Wenn Schutter nun tot war, war es dann noch notwendig, dass er selbst auch starb?

      Die beiden Leichen lagen nicht weiter als einen Meter vom Schilf des Kanals entfernt. Der Mond war hervorgekommen und strahlte so hell, wie er nur in eisigen Winternächten strahlen kann.

      Kuperus atmete mehrmals tief durch, warf seinen Revolver ins Wasser und bereute es sogleich, denn er hatte ihn nicht weit genug geworfen.

      Und wenn schon!

      Er sah auf die Uhr. Er hatte genug Zeit, um …

      Er brauchte nur die beiden Leichen hineinzustoßen. Alice atmete nicht mehr. Sie schien die Augen geschlossen zu haben, vielleicht sah es im Mondlicht auch nur so aus.

      Er machte sich ans Werk, damit er es bald hinter sich hatte, und er kicherte beim Gedanken an die Akademie … Und bevor Schutter im Wasser war, zog er ihm die Brieftasche heraus.

      Er war betrunken, nach allem, was er getrunken und getan hatte. Doch statt ihn übermäßig zu erregen, flößte ihm die Trunkenheit eine unerwartete Ruhe ein.

      Zum Beispiel warf er im Vorübergehen die Brieftasche in einen anderen Kanal, der noch älter und verkommener war als der erste, und er war umsichtig genug, einen Stein in die Brieftasche zu stecken.

      Er hatte nur einen Gedanken: Sich ins Café Onder de Linden zu begeben, wo sicher noch vier oder fünf Gäste Billard spielten. Er würde etwas trinken. Er hatte Durst. Er stellte sich ein gewaltiges Bierglas vor, das die Form eines Champagnerkelches hatte.

      Er durchquerte einen Außenbezirk. Er dachte nicht an die Zukunft, nicht einmal an den nächsten Tag.

      Dann fiel ihm die Fahrkarte ein, die er am Bahnhof von Sneek nicht abgegeben hatte. Das war ihm schon früher passiert. Man wusste so genau, wer aus diesem Zug steigen würde, dass der Beamte manchmal gar nicht auf seinem Posten war; oder aber Kuperus verließ den