Der Mörder. Georges Simenon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georges Simenon
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Die großen Romane
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783455005257
Скачать книгу
mit Absicht schlechtgeschriebene Nachricht erhalten:

      Hochverehrter Herr Doktor,

      es tut weh, mit anzusehen, wenn ein Mann wie Sie insgeheim der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Jemand, der Sie schätzt, teilt Ihnen mit, dass Frau Kuperus Sie betrügt, jedes Mal wenn Sie unterwegs sind. Sie trifft sich mit einem Ihrer Freunde, Herrn de Schutter, in dessen Bungalow am See und verbringt dort manchmal auch die Nacht.

      Jemand, der ihn kannte, ja! Aber jemand, der ihn schlecht kannte! Denn Schutter war nicht sein Freund!

      In den Augen der Leute, vielleicht. Aber nicht im tiefsten Inneren! Monsieur de Schutter, der Rechtsanwalt, der es nicht nötig hatte, vor Gericht aufzutreten, weil er vermögend war, gehörte wie Kuperus zur Billardakademie. Er war sogar ihr Vorsitzender, während Kuperus auf der letzten Vollversammlung nur zum Kassierer gewählt worden war …

      Schutter war adlig. Er hieß Graf de Schutter, aber er tat so, als läge ihm nichts an seinem Titel und als würde er böse, wenn man ihn benutzte, aber damit unterstrich er noch den Unterschied zu den anderen.

      Er war so alt wie Kuperus, fünfundvierzig Jahre, aber er wirkte trotz seiner silbrigen Haare wie fünfunddreißig, weil er schlank war und sich von einem englischen Schneider in Amsterdam ausstatten ließ.

      Schutter sprach Französisch, Englisch und Deutsch, und er war in der ganzen Welt herumgekommen, wovon die vergrößerten Fotos Zeugnis ablegten, die die Wände seines Hauses schmückten.

      Und was für ein Haus das war! Das schönste in Sneek! Neben dem Rathaus. Fast noch schöner als das Amtsgebäude, aus derselben Zeit stammend, in schwarzem Backstein erbaut und mit kleinen rosa Fensterscheiben und Kaminen aus echtem Delfter!

      Schutter war Mitglied des Stadtrates. Er hätte zum stellvertretenden Bürgermeister ernannt werden können, und er ließ sich dieses Amt auch bei jeder Wahl antragen, aber nur des Vergnügens wegen, es abzulehnen!

      Schutter hatte ein Boot auf den Seen, aber kein Sechsmeterboot, auch kein Neunmeterboot, auch keine Tjalk: Es war eine Hochseejacht, die er Southern Cross getauft hatte und die man aus der Konkurrenz hatte nehmen müssen, weil sie sämtliche Rennen gewann.

      Schutter hatte schmale Lippen, die ihm ein überlegenes, ein verächtliches und gleichzeitig nachsichtiges Lächeln verliehen, ein Lächeln »à la Voltaire«, wie gewisse Mitglieder der Billardakademie sagten.

      Schutter fuhr jedes Jahr an die Côte d’Azur und in die Berge.

      Schutter …

      Vor allem aber war er der einzige Mann in Sneek, der sich einen schlechten Ruf leisten konnte. Einen solchen Mann brauchte man: Er war es! Ein Mann, dem man nachsagen konnte:

      ›Er kriegt sie alle …‹

      Alle Frauen! Auch die verheirateten! Ein anderer wäre im ganzen Ort schlecht angeschrieben gewesen, wäre auf den Index gesetzt und aus den Zirkeln ausgeschlossen worden.

      Schutter aber war die große Kokette, der alles erlaubt ist. Einstimmig, ohne dass er sich zur Wahl gestellt hatte, war er zum Vorsitzenden der Billardakademie gewählt worden, während jedermann wusste, dass Kuperus seit Jahren auf diesen Posten hoffte.

      Das war Herr de Schutter!

      Und Frau Kuperus, Alice Kuperus, war eine Frau von fünfunddreißig Jahren, rundlich und ziemlich kräftig, aber rosig und weich, mit einem frischen Lächeln und hellen Augen, eine Frau wie viele, anständig und ohne Bösartigkeit.

      Kuperus schlug ihr nichts aus. Sie ließ sich ihre Sportkleidung beim selben Schneider anfertigen wie die Frau des Bürgermeisters. Seit zwei Jahren besaß sie den schönsten Persianer von Sneek. Im Jahr zuvor hatte man den Salon völlig neu möbliert, damit sie in einem modernen Dekor zum Tee bitten konnte, und Kuperus hatte auch die Kosten für eine tragbare Cocktailbar nicht gescheut.

      Das Schiff brummte. Von Zeit zu Zeit war zu hören, wie eine Eisscholle am Vordersteven zerschellte und wie der Schiffsrumpf am Eis entlangscheuerte.

      Der Steward, der Kuperus kannte, wartete darauf, dass Kuperus noch ein Bier bestellte.

      »Einen Cognac!«

      Das war bereits ein anstoßerregendes Benehmen. An Bord, wo er zu bekannt war, hatte er noch nie Cognac getrunken. Doch er lächelte vor sich hin und dachte an den Revolver.

      Alice Kuperus, das war …

      Er hatte es nicht geglaubt. Bevor er anfing, sich Klarheit zu verschaffen, hatte er zwei Monate gewartet, weil man sich in der Biologischen Gesellschaft über seine Abwesenheit gewundert hätte und alles so schwierig war …

      Man musste sich so viele Tricks ausdenken! So tun, als würde man mit dem Zug wegfahren! Sich bis zum Einbruch der Dunkelheit irgendwo verstecken. Doch jedermann in Sneek kannte Doktor Kuperus! Schließlich den folgenden Abend abwarten, um nach Hause zurückzukehren! …

      Er hatte es getan! Zur Zeit der Schneeschmelze hatte er bei seiner Amme in Hindeloopen übernachtet und ihr irgendeine Geschichte erzählt, doch die alte Frau, die noch die friesische Tracht trug, hatte sich bestimmt nicht täuschen lassen.

      Jedenfalls war es wahr: Er hatte gesehen, wie die beiden, Schutter und Frau Kuperus, in das bungalowartige Haus gingen, das am Kanalufer ganz nahe beim See stand, ganz nahe auch an der Southern Cross, auf der der Rechtsanwalt im Sommer Feste gab.

      Es war ein Holzhaus. Außer einem Treidelpfad gab es ringsum nur Wasser, das Wasser der Kanäle, das Wasser des Sees und aller Seen, die von dieser Stelle ausgingen.

      Es war nur anderthalb Kilometer von der Stadt entfernt!

      »Sie haben kein Gepäck?«

      Er verkniff sich ein Lächeln, als er den Steward ansah. Beinahe hätte er ihm erklärt:

      ›Doch! In meiner Manteltasche habe ich wichtiges, schreckliches Gepäck …‹

      Durch die Bullaugen sah man schon das rote und grüne Licht des Hafens von Stavoren.

      Ein Jahr hatte er gebraucht, um einen Entschluss zu fassen! Und vielleicht hätte er ihn nie gefasst, wenn Schutter nicht vierzehn Tage vorher noch einmal für ein Jahr zum Vorsitzenden der Billardakademie gewählt worden wäre.

      Denn Kuperus hatte sich zur Wahl gestellt! Sie hatten ihn abblitzen lassen und dabei nicht einmal in geheimer Wahl abgestimmt!

      Seit einem Jahr versuchte er, seine Kräfte zusammenzunehmen und sich zum Handeln zu entschließen …

      Es war so weit. Dass er sich auf dem Dienstagsschiff statt auf dem Mittwochschiff befand, war der Beweis.

      »Hier, Peter! …«

      Um ein Haar hätte er dem Steward zehn Gulden gegeben. Doch es fiel ihm ein, dass man darüber reden würde. Er gab ihm nur einen, und das war zehnmal das dobbeltje vom normalen Trinkgeld.

      Der Rest der Strecke von Stavoren nach Sneek war noch besser voraussehbar. Zwei Abteile erster Klasse. Er hatte immer ein Abteil für sich allein. Man kannte ihn. Es war so gut wie reserviert.

      Er ging von Bord, überquerte die Gleise und bestieg sein Abteil, das Raucherabteil, denn er rauchte Pfeife.

      »Guten Abend, Herr Kuperus …«

      Kuperus fuhr seit Jahren mit solcher Regelmäßigkeit auf dieser Strecke, dass der Beamte fälschlicherweise annehmen musste, es sei Mittwoch und nicht Dienstag.

      Die Stationen wurden ausgerufen:

      »Hindeloopen! …«

      Dann:

      »Workum! …«

      Was der Mann so aussprach: Woooorekum …

      Schließlich Sneek mit seinem stillen, sauberen und freundlichen Bahnhof, von wo er gewöhnlich den Weg zum Marktplatz einschlug. Zu dieser Stunde war dort alles dunkel, bis auf die Fenster des Cafés Onder de Linden.

      Der Sitz der Billardakademie! Auf dem Heimweg