Ich pule mit der Nadel einer Brosche in der Öffnung und ziehe das Zettelchen heraus. Unbeholfene, von Hand geschriebene Buchstaben. Ich glaube, da steht SWIS, aber wenn ich das Papier umdrehe, könnte es genauso gut SIMS sein. Wie auch immer – beides sagt mir absolut nichts.
Aber Google hoffentlich schon.
Ich fange mit dem Wort SWIS an und finde tatsächlich ein paar kleine Unternehmen, die so heißen, darunter ein Beratungsbüro, ein Bekleidungsgeschäft und irgendwas mit Gewichtheben. Früher gab es auch noch eine Technoband mit diesem Namen und … mein Blick bleibt an einem Camfie von Miral Swis hängen. Offenbar war sie eine der ersten unserer neuen Führenden! Aufgeregt lese ich weiter, aber dann stellt sich heraus, dass sie schon zig Jahre in Pension und überhaupt nicht mehr wichtig ist. Und damit auch nicht interessant. Das wird nichts. Vielleicht bringt SIMS mir mehr Glück.
Sobald ich das Wort eingebe, bekomme ich eine Serie antiker Videogames vorgesetzt. Außerdem gibt es noch einen Link zu einem amerikanischen Admiral namens William Sims, aber der hat die Bangen Jahre nicht einmal mehr erlebt. Bleibt nur noch der Ort Sims übrig. Irgendwo in Illinois, laut Google Maps. Auch das kann ich abhaken. Ich glaube nicht, dass sie dort so auffällige Klunker anfertigen, und ich weiß ohne Zweifel, dass Pa nie dort gewesen ist.
»Ma!« Ich nehme Zettel und Ring und humpele mit meinen geschundenen Knöcheln die Treppe hinunter. »Ich hab da was gefunden!«
Prissy
»Wow.« Anna steht in ihrem Flamingokleid vor dem großen Spiegel und fasst vorsichtig an ihre knallrosa gefärbten Haare.
Ich habe sie in drei spitze Türmchen gedreht wie im Beispielvideo beim Hair-&-Make-up-Artist in der Southstreet. Dass man eine Tiara auch falsch rum tragen kann, ist meine eigene Idee. Das durchbrochene Silber mit den rosa Strasssteinchen schmückt Annas Stirn, als wäre es genau dafür gedacht.
»Hübsch«, muss Brooklyn zugeben. Sie ist als Lightgirl verkleidet – ihre Lieblings-Gamefigur – und hat fix und fertige Haare gekauft: eine schwarze Afro-Perücke mit LED-Lämpchen.
»Jetzt ich noch.« Ich setze mich auf den Schemel vor dem Frisiertisch und schiebe meine Haare mit zwei Händen nach oben. »Was meint ihr? Hochstecken oder …«
»Warte mal kurz«, sagt Flow. »Nicht bewegen, Pris.«
Das klingt so eindringlich, dass ich wie ein lebendes Bild sitzen bleibe.
Anna kommt näher und studiert meinen Hals.
»Was?«, frage ich.
Läuft da vielleicht irgendein ekliges Tier? Aber ich spüre kein Kribbeln.
»Keine Sorge.« Flow holt etwas Glänzendes aus ihrem Kulturbeutel. »Ich löse das Problem.«
Mit einer Pinzette? Dann ist es bestimmt eine Zecke!
Ich kneife die Augen fest zusammen. »Bist du auch vorsichtig? Und beeil dich ein bisschen, meine Arme werden lahm.«
Etwas Kaltes, Metallisches berührt kurz meinen Nacken und dann höre ich ein Schnippen.
Ein Schnippen!
Ich reiße die Augen auf und springe vom Schemel. »Was machst du da? Bist du verrückt?«
»Dafür sorgen, dass du dich gleich nicht bis auf die Knochen blamierst.« In der rechten Hand hält Flow eine kleine Schere und in ihrer linken …
Mir kommen fast die Tränen, als ich das elektronische Label sehe, das sie aus meinem Kleid geschnitten hat.
»Was guckst du komisch?«, sagt Anna.
»Prissy guckt immer komisch.« Brooklyn kichert. »So ist ihr Gesicht.«
Verzweifelt sinke ich auf den Schemel und suche mit meinem Kopf auf den Armen Trost beim Frisiertisch.
»He.« Flows Stimme ist samtweich. »Brooklyn macht doch nur einen Scherz.«
»Ich bin nicht in der Stimmung für Scherze«, murmele ich.
Jetzt will sie mit mir auf dem Schemel sitzen. Ihre harte Hüfte zwingt mich, ein Stück zu rücken. »Du hast ein wunderschönes Gesicht.« Sie legt die Arme um mich. »Das weißt du ganz genau.«
Ich hebe meinen Kopf ein wenig an. »Darum geht es gar …«
Ich schlucke. Flow hat die Schere und das E-Label auf den Frisiertisch gelegt. Es ist wie in Filmen mit Verliebten, in denen einer der beiden stirbt. Ich gucke auf das Label und muss weinen.
»Was hast du denn bloß?«, fragt Brooklyn. »Sonst stellst du dich nie so an.«
Bestohlen werden von der eigenen Tochter …
Mama wird auch megatraurig sein. Und enttäuscht.
Anna kauert sich neben den Schemel. »Liegt es vielleicht an dem Stalker? Bist du deswegen so durcheinander?«
»Mo?« Nach unserem Gespräch habe ich kaum noch an ihn gedacht. Er ging mir nicht länger auf die Nerven und ich war zu viel mit anderen Sachen beschäftigt. Zum Beispiel damit, auf der Lauer zu liegen und die Haustür zu öffnen, bevor der Kurier klingelt, damit Mama es nicht mitbekommt.
Ich wische die Tränen ab und setze mich aufrecht hin. »Mo hat nichts damit zu tun.«
»Was ist denn dann los?«, fragt Anna.
»Ja, Pris.« Flow zupft ein Kosmetiktuch aus der Box und reicht es mir.
Ich schnäuze mir die Nase, um Zeit zu schinden. Könnte ich es ihnen bloß clicken, dann bräuchte ich sie nicht anzuschauen.
»Wir sind deine Freundinnen«, drängt Flow. »Uns kannst du doch alles sagen.«
»Das E-Label«, rutscht mir raus. »Du hast es einfach so abgeschnitten.«
»Natürlich«, sagt sie. »Das Ding ragte direkt aus deinem Kleid. Modepanne Nummer zwei, laut Reese.«
»Drei«, korrigiert Brooklyn.
»Hättest du es doch nur einfach in meinen Kragen zurückgesteckt.« Das Kosmetiktuch ist eine kleine feuchte Kugel in meiner Hand. »Jetzt kann ich mein Kostüm nicht mehr zurückschicken.«
»Warum solltest du das wollen?«, fragt Flow einfältig. »Es steht dir supergut.«
»Mama weiß nicht, dass ich es gekauft habe. Ich hatte schon ein Kleid …«
Den Blick auf den Boden gerichtet, fange ich an zu erzählen.
Meine Freundinnen waren noch nie so lange am Stück still. Irgendwann bekomme ich das Gefühl, sie hätten sich vielleicht heimlich davongeschlichen, und schaue vorsichtig auf.
Natürlich sind sie noch da – ganz schockiert, auch wenn sie versuchen, das hinter nervösen kleinen Lachern zu verstecken.
»Und jetzt habe ich also ein riesiges Geldproblem«, beende ich meine Geschichte.
Flow ist als Erste wieder in der Lage zu reden. »Ich würde dir furchtbar gern helfen, aber …«
»Dein Kleidergeld ist alle.« Ich nicke verstehend.
»Meins auch«, sagt Anna.
Brooklyn kaut auf der Innenseite ihrer Wange. »Kann Holden dir nichts leihen?«
»Für ein Kleid?« Fast muss ich laut lachen. »Da bin ich bei ihm bestimmt an der richtigen Adresse. Kleidung interessiert ihn echt nicht die Bohne.«
»Ach«, sagt Brooklyn. »Das ist mir bisher noch nie aufgefallen.«
Ich bin immer noch nicht zu Scherzen aufgelegt.
»Ein Versuch kann doch nichts schaden.« Flow reicht mir mein Camphone. »Na los. Appelier an sein Gefühl. Du bist die kleine Schwester,