Zögernd stieß er die Tür ganz auf.
Michelle blickte auf und musterte ihn kalt.
Ich glaube, ich muss erfrieren neben dieser Frau, dachte Pierre, doch er zwang sich zu einem Lächeln.
»Guten Morgen, Michelle«, sagte er höflich und beugte sich zu ihr herunter, um sie auf die Wange zu küssen.
Michelle ließ es geschehen, erwiderte aber weder seinen Gruß noch seinen Kuss. Sie rührte sich nicht.
»Wo sind die Kinder?«
»Mit dem Kindermädchen im Park, wie jeden Morgen«, antwortete Michelle kühl.
»Ach ja, richtig, wie dumm von mir.« Pierre fühlte sich immer unwohler in seiner Haut.
»Michelle, ich muss etwas mit dir besprechen.«
Michelle sah auf. Sie verzog noch immer keine Miene, aber an dem leisen Flackern in ihrem Blick bemerkte er, dass sie doch nicht ganz so gleichgültig war, wie sie sich gab. Dass sie nur eine Maske aufgesetzt hatte und hinter dieser immer noch die verzweifelte Frau war, die so leicht in Tränen ausbrach.
»Ja?« Sie blätterte mit gelangweilter Miene und sorgsam manikürten Fingernägeln in der Zeitschrift, die vor ihr auf dem Küchentisch lag.
»Ich bin wieder einberufen worden«, erklärte Pierre geradeheraus. »Ich muss mit den Besatzungstruppen nach Deutschland.«
Michelle sagte kein Wort.
Pierre starrte in ihr sorgfältig geschminktes Gesicht und suchte nach einer Regung. Er fand keine.
»Michelle?«, fragte er. »Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?«
Michelle sah auf und ihm gerade in die Augen. Sie hatte sich bestens im Griff. Kein Zucken verriet ihre wahren Gefühle. »Natürlich habe ich dich verstanden.«
»Und was sagst du dazu?«
»Nun, ich gratuliere dir.« Es klang desinteressiert und gelangweilt.
Pierre war fassungslos. »Du gratulierst mir? Aber warum? Du weißt doch genau, dass ich von dieser Ruhrbesetzung alles andere als begeistert bin. Ich freue mich keineswegs, in die Besatzungstruppe abkommandiert zu sein.«
»Dann nehme ich meine Gratulation selbstverständlich wieder zurück.« Michelle wandte sich wieder ihrer Zeitschrift zu.
Pierre spürte den wohlvertrauten Zorn in sich aufsteigen, der immer irgendwann durchbrach, wenn er länger mit seiner Frau sprach. »Michelle, was soll das alles?«, fragte er, mühsam beherrscht.
»Was … alles?«, fragte Michelle scheinheilig.
»Du weißt genau, was ich meine. Warum spielst du mir etwas vor und sagst mir nicht endlich, was du wirklich denkst?«
»Ich glaube nicht, dass dich das interessieren würde«, erwiderte sie spitz. »Außerdem möchte ich dich nicht damit belasten, was ich denke oder fühle.«
»Michelle!«
»Nein, Pierre. Ich meine es ernst.« Zum ersten Mal ließ sie eine Regung erkennen und sah ihm in die Augen, wenn sie den Blick auch kurz darauf wieder senkte. »In den letzten Jahren hast du mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich dich nicht interessiere und dass du immer noch an diese Deutsche denkst. Und jetzt kannst du es nicht ertragen, dass ich mich von dir zurückziehe.«
»Michelle …«
Wieder unterbrach sie ihn. »Ich habe dir gratuliert, weil du nun endlich einen Grund hast, nach Deutschland zurückzukehren und das zu tun, was du schon immer wolltest: nach deiner Sophie suchen.«
Pierre spürte, wie sein Herz bei der bloßen Erwähnung von Sophies Namen heftig zu schlagen begann. Aber er unterdrückte die Hoffnung, sie wiederzusehen.
»Und ich gratuliere dir, dass du uns endlich los bist. Darauf hast du doch immer gehofft.«
»Nein, Michelle, das ist nicht wahr.«
»Dann geh doch!«, Michelle hatte nun vollkommen die Beherrschung verloren. »Geh, aber ich will dich nie, nie wiedersehen, und die Kinder wirst du auch nicht mehr zu sehen bekommen. Du kannst ja mit Sophie welche haben.«
»Bitte, Michelle, lass uns doch vernünftig …«
»Geh mir aus den Augen!«, schrie Michelle hysterisch. »Sofort!«
Pierre erhob sich langsam.
»Ich fahre heute noch zu meiner Mutter«, fuhr Michelle, jetzt ein wenig gefasster, fort. »Falls sie mich noch nimmt, denn deinetwegen habe ich ja auch sie beinahe verloren. Die Kinder nehme ich mit. Und wenn ich zurückkomme, dann erwarte ich von dir, dass du verschwunden bist.«
»Michelle, das geht doch nicht so einfach. Wir sind verheiratet und ich möchte die Kinder nicht aufgeben.«
Michelle verlor die Kontrolle über sich. Sie kreischte wüste Beschimpfungen, und Pierre floh aus dem Haus.
Ich werde das klären, wenn sie sich etwas beruhigt hat, dachte er. Ich werde meine Kinder nicht aufgeben, ich habe ein Recht darauf, sie zu sehen.
Aber während er die breite Straße hinunterging, die von den eleganten Häusern der Pariser Elite gesäumt war, fühlte er eine große Erleichterung in sich aufsteigen, wie ein Vogel, den man nach vielen Jahren im Käfig endlich freigelassen hatte.
In diesem Moment war er sich sicher, dass er Sophie wiederfinden würde. Er würde nach ihr suchen. Und was die Ehe mit Michelle anging, da würde es sicher eine Lösung geben.
Die Worte, die Michelle ihm nachgerufen hatte, hatte er vergessen oder sie zumindest tief in seinem Unterbewusstsein vergraben.
»Du wirst noch bereuen, was du mir angetan hast, Pierre«, hatte sie geschrien. »Du wirst deines Lebens nicht mehr froh, das schwöre ich dir.«
18. Kapitel
Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923
Als Johanna die Treppe zur Küche hinunterstieg, sah sie durch das kleine Fenster am Treppenabsatz ihren Großvater und Raphael durch den Garten auf das Haus zukommen.
Seltsam, wunderte sie sich. Es ist doch erst zehn Uhr und der Unterricht müsste in vollem Gange sein! Beunruhigt lief sie die Treppen ganz hinab und öffnete die Tür. Erst jetzt bemerkte sie, dass Raphael völlig verstört war.
»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?«, rief sie erschrocken.
Als sie ihren Großvater anblickte, erschrak sie noch mehr, denn das sonst so gütige, ruhige Gesicht war wutverzerrt und die stets humorvollen Augen glühten vor Zorn.
Raphaels Miene hingegen schien regelrecht erstarrt, und an der Rötung seiner Augen konnte sie erkennen, dass er geweint hatte.
»Raphael, was ist denn los?«, fragte Johanna und wollte ihn in die Arme nehmen. Aber der Junge riss sich los und rannte ins Haus.
Johanna sah ihren Großvater irritiert an. »Nun sag doch endlich, was passiert ist!«
»Diese Schweine!«, zischte Friedrich durch die Zähne. »Diese gottverdammten Schweine!«
Johanna zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Schimpfwörter aus seinem Mund waren selten.
»Wer, Großvater? Wer?«
Doch der alte Mann schüttelte nur den Kopf und sah sie an, als bemerke er sie jetzt erst. Er schien nicht fähig, in Ruhe zu berichten.
Johanna nahm ihn beim Arm. »Großvater«, sagte sie eindringlich. »Willst du mir nicht endlich sagen, was geschehen ist?«
»Sie haben auf Raphaels Schulbank ›Franzosenschwein‹ geschrieben«,