Johanna ist schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden, sagte er sich, sie wird auch diese meistern.
Im Haus traf er auf eine völlig hysterische Sophie, die damit beschäftigt war, die einzelnen Schränke nach ihrem Sohn zu durchsuchen.
»Das hat doch keinen Sinn, Sophie«, erklärte Sebastian. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Raphael seit Stunden in einem der Schränke hockt.«
»Ich kann einfach nicht untätig herumsitzen«, schluchzte Sophie. »Und die wahrscheinlichen Möglichkeiten habe ich schon alle durch.«
»Johanna ist zum See runter, um ihn an seinem Lieblingsplatz zu suchen.«
Sophie starrte Sebastian an und schlug sich gegen die Stirn. »Der Felsen am See!«, rief sie erleichtert. »Warum bin ich darauf noch nicht gekommen?«
Sie machte sich von Sebastian los und rannte in Richtung Tür.
»Wo willst du hin?«, fragte er, obwohl er es genau wusste.
»Zum See, wohin denn sonst?«
»Sophie, du kannst nicht alleine dort hin. Nicht mitten in der Nacht.«
»Hast du Angst, dass einer der Überlinger mich überfällt?«, fragte Sophie spöttisch und ging eilig in den Garten hinaus. »Außerdem hast du deine Frau doch auch gehen lassen«, rief sie über die Schulter.
»Auf Johanna ist auch kein Anschlag verübt worden«, argumentierte Sebastian. »Denk daran, was neulich geschehen ist.«
»Umso gefährlicher ist es für Raphael, draußen herumzulaufen. Ich muss zu ihm.«
»Du kannst ihn nicht schützen und du hilfst ihm nicht, indem du dich selbst in Gefahr bringst. Wenn dir etwas zustieße, dann müsste er auch noch damit fertig werden.«
»Aber er ist ganz allein da draußen.«
»Er ist nicht allein. Johanna sucht nach ihm und die kann ihn im Moment besser schützen als du.«
»Ich werde trotzdem gehen«, sagte Sophie verzweifelt. »Ich muss.«
Sebastian stellte sich ihr in den Weg. »Ich lasse dich nicht gehen. Du solltest lieber hierbleiben und deine Sachen packen.«
Sophie starrte ihn wütend an. »Immer muss alles nach deinem Kopf gehen.«
»Sophie, was du vorhast, ist unvernünftig.«
»Es ist mir egal.« Sie stieß Sebastian zur Seite. »Ich mache, was ich will.«
Dann öffnete sie das Gartentor und trat auf die dunkle Straße hinaus.
23. Kapitel
München, Bayern, Februar 1923
Marlene hatte schreckliche Angst. Nachdem sie schon vorhin in seiner Gegenwart kein Wort herausbekommen hatte – wie sollte sie es dann schaffen, ihm eine gute Tischdame zu sein? Plötzlich verfluchte sie Lisbeth für ihre Idee, sie nebeneinander zu platzieren, und überlegte fieberhaft, ob es eine Möglichkeit gäbe, nicht neben ihm zu sitzen. Sie zog sogar in Erwägung, plötzliche Kopfschmerzen vorzutäuschen und sich zurückzuziehen – aber das konnte sie Lisbeth nicht antun, war sie doch eigens für ihre Hochzeit nach München gekommen und hatte die Tage der Vorbereitung in engster Vertrautheit mit ihr verbracht. Außerdem wollte sie ihm ja gar nicht ausweichen. Sie wollte neben ihm sitzen, seine Nähe spüren. Wenn sie sich nur nicht allzu sehr blamierte. Und so wissend, wie er sie immer anschaute, ahnte er, was in ihr vorging. Das war ihr peinlich. Vielleicht, dachte Marlene, sollte sie kühle Distanziertheit an den Tag legen. So tun, als beeindrucke sie seine Anwesenheit gar nicht. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob ihr das gelingen würde.
Es gelang ihr. Und wie es ihr gelang. Nachdem die Suppe aufgetragen worden war und sie den ersten Löffel probiert hatte, beugte sie sich leicht zu ihm hinüber und schwärmte: »Ein himmlischer Genuss, findest du nicht?«
»In der Tat.« Andreas wandte sich ihr zu und sah ihr in die Augen. Dann wanderte sein Blick über ihr Gesicht, zu den zarten blonden Locken, die sich über den Ohren kräuselten, und dann, zu rasch, als dass es anzüglich hätte sein können, über ihr Dekolleté in dem hellblauen Seidenkleid mit dem Spitzenrand. »Ein himmlischer Genuss«, wiederholte er langsam, und Marlene spürte, wie ihr die mühsam errungene Selbstsicherheit bei diesen Worten entglitt. »Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, Marlene: Du siehst absolut hinreißend aus. Das Blau deines Kleides greift genau die Farbe deiner Augen auf und macht sie noch ausdrucksvoller. Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe.«
»Oh«, Marlene errötete und beugte sich rasch über ihren Teller, um noch einen Löffel Suppe zu nehmen. Sie bemerkte, dass er sie immer noch ansah, und betete innerlich, dass sie den Löffel halbwegs elegant zum Mund führen und nicht kleckern würde. Es glückte ihr. Danach sah sie ihn wieder an. »Das ist sehr freundlich von dir.«
»Nein, Marlene.« Seine Stimme klang rau. »Das ist nicht freundlich, sondern sehr ernst gemeint.« Auf einmal wirkte er nervös, als er fragte: »Würdest du mir nachher den ersten Tanz schenken?«
Der Griff, mit dem er sie umschlang, war fest und bestimmt. Minuten zuvor hatte das Brautpaar seinen Eröffnungstanz gegeben, nun drängten die Tanzlustigen auf die Fläche. Nach all dem Hunger und der Entbehrung, die mit der Inflation einhergingen, gierten sie alle nach etwas Lebensfreude und Ablenkung. Es war eng, aber das gefiel Marlene. Sie spürte das Klopfen seines Herzens und es kam ihr so vor, als ob es besonders schnell schlüge. Während des Tanzes sprachen sie die ganze Zeit über kein Wort, sahen sich nur unverwandt in die Augen, wandten den Blick ab, sahen sich wieder an. Ein ewiges, nervenaufreibendes, aufregendes Spiel. Am Ende glühten Marlenes Wangen feuerrot. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und befreite sich hastig aus seinen Armen. Sie brauchte jetzt unbedingt eine Pause. »Ich will mich nur eben ein wenig frisch machen.« Er nickte und entließ sie aus seiner Umarmung.
Im Vorraum der Toilette angekommen, stützte sich Marlene keuchend auf dem großen Marmortisch ab, in den das Waschbecken eingelassen war, und blickte sich in die fiebrig glänzenden Augen. Wie gerne hätte sie die Hände unter kaltes Wasser gehalten und auf ihr Gesicht gepresst, aber sie fürchtete, dass sie damit ihre kunstvolle Aufmachung zerstören könnte. Spontan entschied sie, noch ein wenig in den Garten zu gehen. In der kalten Winterluft würde sie sicher wieder einen klaren Kopf bekommen. Sie verzichtete aber darauf, an der Garderobe ihren Mantel zu holen, sie wollte kein Aufsehen erregen. Und sie wollte ja auch wirklich nur ein paar Minuten draußen bleiben.
Marlene stieß die Terrassentür auf, die in den Garten führte, und trat hinaus ins Freie. Die kalte Winterluft schoss durch den seidenen Stoff ihres Kleides, es tat gleichermaßen gut und beinahe weh. Vom Himmel kam ein leichter, kaum wahrnehmbarer Nieselregen. Marlene hob das Gesicht und genoss das Gefühl, wie das kalte Wasser ihre immer noch glühende Haut sanft benetzte. Ein paar Schritte ging sie auf den Steinplatten durch den Garten und suchte dann Schutz unter einer Pergola, von der aus sich ein herrlicher Blick auf die Stadt bot.
»Marlene«, hörte sie plötzlich eine männliche Stimme, seine Stimme, hinter sich. »Marlene, dir wird doch kalt.«
Sie wirbelte herum und fast direkt in seine Arme. Ganz dicht stand er vor ihr, sie konnte die Wärme seines Körpers durch den dünnen Stoff ihres Kleides spüren. Er zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. Den Kragen ließ er nicht los, sondern zog sie zu sich heran. »Unvernünftiges Mädchen«, murmelte er, bevor er die Augen schloss und seine Lippen die ihren berührten.
24. Kapitel
Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923
Johanna fand Raphael tatsächlich auf dem Felsen am See. Schon von Weitem konnte sie die zusammengekauerte Gestalt, die in Richtung Wasser starrte, schemenhaft ausmachen.
»Raphael«, sagte sie leise, als sie bei ihm angelangt war.
Der Junge hob langsam den Kopf. Er hatte Johanna bereits kommen hören.