Der Befehlshaber der Berittenen – er führte den Zug an und war ein Stück weit vorausgeritten – brachte sein Pferd zum Stehen und wartete, bis das Gefährt auf gleicher Höhe mit ihm war.
»Verdammt, Anton, glaubst du, die Achse wird halten? Seit einer halben Stunde ächzt und stöhnt sie wie meine Alte beim Kinderkriegen«, wandte er sich mit verhaltener Stimme an einen der beiden Männer auf dem Kutschbock. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben, schließlich war er für die Sicherheit des einzigen Fahrgastes, den der Wagen mit sich führte, persönlich verantwortlich.
Anton zuckte die Schultern. »Wer weiß das schon. Hoffen wir’s. Bert behauptet, er sei mit einer solchen Achse schon mal ’nen ganzen Tag lang gefahren. Als sie brach, war er fast am Ziel, nich wahr, Bert?«, sagte Anton und stieß den neben ihm sitzenden Kutschgefährten in die Seite.
»Ja, aber da war die Straße nicht so beschissen schlammig gewesen. Kostet die Achse ganz schön Kraft, wenn der Boden so durchgeweicht is’.«
Offenbar schien die Achse Berts Worte augenblicklich bestätigen zu wollen, denn gleich darauf bereitete ein dumpf-berstendes Geräusch dem Ächzen ein jähes Ende. Die beiden Vorderräder knickten zur Seite weg, was das klobige Fahrzeug abrupt zum Halten brachte und nach vorne neigen ließ. Die Pferde, durch den plötzlichen Ruck irritiert, wieherten laut und stampften mit den Hufen.
»Zum Teufel, da haben wir die Bescherung!«, fluchte Anton und sprang vom Kutschbock.
»Mist, als ob die verdammte Achse es gehört hätte«, schimpfte auch Bert und sprang hinterher.
Fast gleichzeitig wurde ein Vorhang an einem der beiden Fenster des Wagenkastens zur Seite geschoben und das strenge Gesicht eines Mönchs erschien.
»Was gibt es? Könnt Ihr denn nicht acht geben?«, fragte er ungehalten.
»Verzeiht, hochehrwürdiger Herr, aber es ist die Achse. Sie ist gebrochen. Dafür können die Männer nichts«, antwortete der Anführer der Berittenen.
Das tonsierte Haupt verschwand hinter dem Vorhang, gleich darauf öffnete sich auf der Rückseite des Wagens die Einstiegsklappe. Offenbar beabsichtigte der Mönch auszusteigen. Das aber war in diesem Fall nicht so einfach; der Bruch der Achse hatte das Gefährt in eine Schieflage gebracht, sodass der Aufsatz, der zum Ein- und Aussteigen diente, sich deutlich höher über dem Boden befand als gewöhnlich.
»Helft mir herunter, Hauptmann!«, forderte der Mönch deshalb mit einer Stimme, der man anhörte, dass sie das Befehlen gewohnt war.
Der Anführer sprang aus dem Sattel. »Bitte, ehrwürdiger Vater«, sagte er und trat mit ausgestreckter Hand an den Wagen heran.
Der Mönch raffte seine Gewandung zusammen, ergriff die Hand des Hauptmanns und sprang heraus. Schlamm spritzte unter seinen Stiefeln und beschmutzte sowohl den schwarzen Reiseumhang als auch die weiße Kutte, die sich darunter verbarg.
»Was gedenkt Ihr nun zu tun, Grasser?«, fragte er; der Ärger von vorhin schien verflogen.
Hans Grasser, Hauptmann einer bewaffneten Abteilung, die dem Bischof von Passau zu Diensten stand, sah zu der Anhöhe links des Weges hinauf. Dort duckten sich die Gebäude eines Bauernhofs unter die tiefhängende Wolkendecke; dunkle, massige Silhouetten, deren Konturen sich im verwaschenen Grau des Morgens auflösten.
»Ich denke, da oben gibt es einen Hof, wo Ihr vorübergehend Quartier einfordern könntet, hochehrwürdiger Herr. So lange, bis wir das Malheur behoben haben. Die Leute dort werden uns bestimmt dabei helfen«, schlug der Hauptmann vor und deutete mit der Hand zum Hügel hinauf.
Petrus Zwicker, Cölestinerpater und vom Bischof zu Passau bestellter Inquisitor der ketzerischen Verderbtheit, ausgezogen, um der allein wahren Kirche und dem rechten Glauben zum Sieg gegen die Häresie zu verhelfen, blickte kurz zur Anhöhe hinauf.
»Nun denn, reiten wir«, stimmte er zu und stülpte sich die Kapuze seines Reisemantels über den Kopf. »Welches Pferd werde ich nehmen?«
»Natürlich das meine, hochehrwürdiger Herr. Ihr seid es schon gewohnt. Ich schlage vor, dass ich und einer meiner Leute Euch begleiten. Die anderen bleiben vorerst hier beim Wagen.«
Jos, der Knecht, war gerade damit beschäftigt, eine Ladung frischen Mist zum Dunghaufen hinüberzukarren, als er die Anhöhe hinunterblickte und drei Reiter den Weg zum Seimerhof hinauftraben sah. Verdutzt hielt er inne. Besucher, so früh am Morgen? Und bei diesem Wetter? Trotz seines Alters verfügte Jos noch immer über ein bemerkenswert scharfes Augenpaar, und da das Licht des Tages sich inzwischen immer mehr gegen den dämmrigen Morgen behauptete, erkannte er schnell, wer sich von da unten näherte. Einer davon war eindeutig ein Mönch, die anderen beiden – konnte es sein? – bewaffnete Reiter.
Jos erbleichte, sein Blick wurde starr. Ein Mönch und zwei Berittene in Waffen! Das Zeitenrad in Jos Gedächtnis begann sich auf einmal rückwärts zu drehen, bis es bei einem Ereignis stehen blieb, das weit in Jos’ Leben zurückreichte. Damals, vor mehr als vierzig Jahren, war es gewesen. Da hatte es schon einmal so begonnen. Mit einem Mönch und zwei Waffenknechten. Sie hatten seine Frau und seine Tochter geholt. Und am Ende von allem waren Qual und Feuer und Tod gestanden. Und eine nie enden wollende Trauer.
»Herr, hilf und gib uns allen Kraft!«
Mit einem mächtigen Schwung ließ Jos das Zeitenrad in seinem Kopf wieder in die Gegenwart zurückwirbeln. Er stellte die Mistkarre einfach ab und schlurfte, so schnell er es vermochte, zum geräumigen Haupthaus hinüber.
»Sie kommen, Peter. Gleich … gleich werden sie da sein!« Nicht nur das Gebrüll des Knechtes, auch der laute Knall, mit dem die Tür hinter Jos ins Schloss fiel, ließen Peter Seimer samt Frau und Kindern regelrecht zusammenfahren. Insbesondere die beiden Jüngsten, Konrad und Lea, die gerade ihren morgendlichen Brei löffelten, sahen verstört zu Jos empor, der mit fahlem Gesicht und zitternden Gliedern am Tisch neben dem Vater stand; Lea, die Kleinste, fing an zu weinen.
Der Bauer sprang auf. »Aber Jos, was soll das? Wer wird gleich da sein?«, fragte er ungehalten.
»Komm! Komm mit und sieh selbst«, stieß Jos hervor und war mit einem leise gemurmelten »O, mein Gott!« auch schon wieder zur Tür draußen.
Peter Seimer folgte dem Knecht auf den Hof hinaus. Dort gab es eine Stelle, von wo aus der Weg, der zu seinem Anwesen führte, ein gutes Stück weit eingesehen werden konnte. Er blickte den Abhang hinunter – und fühlte eisige Starre in sich hochsteigen.
»Gott sei uns gnädig – die Wölfe des Antichristen«, stieß er entsetzt hervor. Gleichzeitig fragte er sich, wie die, die da heranritten, von seiner Zugehörigkeit zu denjenigen wissen konnten, die man als Ketzer ansah. Hatte irgendjemand während der Gerichtsverhandlung Verdacht geschöpft, weil er um das Leisten des Eides herumgekommen war?
Wie eine von Wölfen bedrohte Schafherde jagten die Gedanken durch Seimers Kopf. Dennoch wusste er sofort, welche Entscheidung er zu treffen hatte.
»Schnell, Jos, du weißt, was nun geschehen muss. Wir gehen genau so vor, wie wir es tausendmal geübt haben. Du holst das Getäusche und ich bringe die Kleinen ins Versteck – nicht, dass sie sich verplappern.«
»Ja, aber …«
»Kein Aber. Los, komm schon! Bis sie hier sind, vergeht noch ein wenig Zeit. Gut, dass die anderen vom Gesinde nicht da sind; so brauchen wir uns nicht auch noch um sie zu kümmern.«
Sie hasteten ins Haus zurück. Während Jos in einer der Kammern verschwand, in die man vom Gang aus gelangte, eilte der Bauer in die Stube, in der Lisbeth und die Kinder versammelt waren. Ein Blick genügte, um seine Frau sowie Marie