»Hoboken? War ich noch nie. Nachbarrevier von Popeye Doyle. French Connection.« Schmelzer schüttelte den Kopf über Fetts Assoziationen. »Brauers habe ich doch oft in der Zeitung gelesen. Immobilien, Messen, Kunst und Kultur. War er mal Karnevalsprinz?« Fett sprach mehr zu sich als zu Schmelzer.
»Kann sein. Jeder war mal Prinz. Zumindest von den ganz, ganz wichtigen Herren in der Kaiserstadt. Quasi alle Nachfolger Karls des Großen.«
»Was Sie alles wissen, Schmelzer. Fast so gut wie Einhard.«
»Besser als Einhard. Alkuin.«
»Wow. Wie der Hund vom Dompropst. Dann mal los, Alkuin. Bin auf Ihre These gespannt.«
»Alkuin – Hund vom Dompropst? Eher der Spindoctor von Karl dem Großen. Also: viele Jobs, viele Feinde. Neid, Konkurrenz, Rache, Gier, Eifersucht. Bei Brauers kommt alles zusammen. Suchen Sie sich was aus. Ein Tausendsassa, sagte man doch früher so. Der machte Geld aus allem.«
»Sehr konkret. Besten Dank, Alkuin vom Steppenberg. Fangen wir mal ganz klein an. Freitagsprogramm von Brauers. Gibt es einen Terminkalender oder steht alles im Handy? Haben wir sein Handy? Gibt es eine Chefsekretärin?«
»Marion Schnell. Sie leitet sein Büro im Kapuziner Karree. Brauers Handy haben wir nicht gefunden. Treibt vielleicht gerade in Richtung Urfttalsperre.«
»Rufen Sie Frau Schnell an. Hurtig. Um nicht zu sagen schnell.«
Fett ging durch die Zimmer. Ihm kam es so vor, als ob er in eine Musterwohnung für »Schöner Wohnen« eingedrungen sei. Nicht nur aufgeräumt, sondern steril. Er dachte an sein eigenes Arbeitszimmer. Immer kippte ein Stapel mit Büchern um. Ständig waren die alten Schallplatten in falschen Hüllen. Irgendwo lagen seine Socken verstreut. Hier nicht. Alles an seinem Platz. Vielleicht ist das das Geheimnis des Erfolgs. Alles an seinem Platz. Ordnung als oberstes Prinzip. Auch am Bücherregal. Klassiker des ökonomischen Denkens. »Feuchtgebiete« neben dem Krimi »Allerseelenschlacht«. Managerbücher wie »Heute arm, morgen reich. Karriere ohne Kurven« und Alltagsweisheit wie »Glücklichsein mit ernster Heiterkeit«, mehrere Exemplare seiner Doktorarbeit im Fach Wirtschaftsgeografie zum Thema »Landschaftsraum, Ökologie und Tourismus. Eine Symbiose.« Kein großer Leser, der große Macher. Die DVD-Sammlung bestand aus Arthaus-Klassikern von der ZEIT. Manche noch verschweißt. Woran hatte Dr. Brauers Freude? Am Kontostand? An Zeitungsartikeln? An VIP-Einladungen? An einer Jacht, an Häusern? War er ein Wohltäter? Sammelte er Orden? Oder alles zusammen?
»Mit wem haben wir es zu tun, Schmelzer? Wer war der Mann, was trieb ihn an?«
Schmelzer staunte im Bad über die Pflegeserie für Männer, während er seit Jahren zum Schrecken seiner Ehefrau Anne immer noch Old Spice benutzte.
»Ich tippe auf Macht. Macht macht mächtig und sexy. Da gehen alle Türen schnell auf. Keine Wartezeiten. Sofort Termine. VIP-Lounge am Airport. Businessclass bei der Lufthansa. Premierenabo im Stadttheater. Eigene Lounge am Tivoli, na, darauf kann man ja jetzt verzichten. Vielleicht steht auf dem Flugfeld von Merzbrück eine Cessna. Wer weiß? Antrieb? Gestalten, machen, bewegen, schaffen, nicht vergessen werden. Etwas hinterlassen. Was treibt die Menschen an? Ruhm, Ehre, Geld, Ansehen.«
»Nicht schlecht, mein lieber Alkuin. Wie kam er so weit? Hochgearbeitet? Schauen Sie sich seinen Lebenslauf an. Hier finden wir nichts mehr. Eher noch die KTU auf seinen Computern und dem technischen Gedöns. Auf zu seiner Sekretärin. Die wissen alles, auch das, was nicht in der Zeitung steht.«
Die bitteren Tränen der
Marion Schnell
Der Brunch nach dem Bäckerball war ihre Rettung. Die Nacht zu kurz, der Morgen verschattet. Ihr Chef irgendwann verschwunden. Sie tanzte bis um fünf Uhr. Die »Vier Amigos« rockten den Eurogress – wie jedes Jahr, wie immer. Die Hälfte des Lebens kam auf Marion Schnell zu. Im Sportstudio hielt sie sich topfit. Marion war immer dabei. Sie lachte gerne und laut. Sie tanzte die Konkurrentinnen an die Wand, und als Schatten von Dr. Wilfried Brauers, Karnevalsprinz a. D., gelangte sie manchmal auf die Einladungsliste für Feste und Feiern. Sie war mehr als seine Sekretärin, mehr als seine Büroleiterin. Damals war sie noch mehr. Bis in die Nacht im Büro, zum Abschluss Champagner aus dem Bürokühlschrank, die Freude über den Erfolg, all die Stunden, all die Tage, all die Wochen. Sie lebte den Job, sie liebte ihren Chef. Die coole Eleganz, Überblick, Kreativität, sein Gespür für Chancen, Entwicklungen. Wilfried wusste, wie die Welt funktioniert. In ihren Augen. Sie spürte, dass es nicht lange halten würde. Brauers war Trophäenjäger. Aber bei ihr war es anders. Hatte er ihr gesagt, der blonden Marion Schnell, mit den blauen Augen, der engen Jeans, den endlosen Beinen, nach denen sich trotz Me-Too-Debatte die Männer auf der Straße umschauten. Außerdem lächelte sie gerne, und das Wort »Flirt« stand nicht auf ihrem Index der verbotenen Wörter und Taten.
Der letzte Apérol war einer zu viel. Samstagsbrunch im Hause Paffenhoven. Ihr Chef wollte auch kommen. Das Tattoo am Fußgelenk juckte. Kaum zu sehen. Rouge, Designerjeans, Lederjacke. Wird schon. Ihr knatschgelber VW Beetle parkte in der Tiefgarage vom Eurogress. Sie bestellte ein Taxi für die Fahrt zum Brunch. Das Handy klingelte.
Verweint saß sie wenig später auf ihrem Sofa und hielt einen Teddy im Arm. Das Rouge war mit den Tränen auf die Lederjacke gelaufen. Von dort auf die hellblaue Jeans. Fett und Schmelzer trafen kurz nach ihrem Anruf ein und kondolierten zum Tod von Dr. Wilfried Brauers.
Schmelzer schaute sich um. Seilgraben, Innenstadtlage, Mietwohnung. Marion Schnell war Stammkundin der großen Möbelhäuser in der Region. Hier und da ein Accessoire aus einem Designerladen. Krimis von Martin Suter. BRIGITTE woman, »Landlust«, eine CD von »AnnenMayKantereit«, Einladung zum Bäckerball. Eine alleinstehende Frau, attraktiv, bei einem der Macher der Stadt beschäftigt.
»Wann haben Sie Ihren Chef zuletzt gesehen?« Fett sprach sie mit ruhiger Stimme an.
»Gestern. Auf dem Bäckerball. Er saß vorne. An der Bühne. Bei den wichtigen Leuten.«
»Wo saßen Sie?«
»Hinten. Mit meinen Freunden.«
»Haben Sie eine Uhrzeit für uns, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben?«
»Nach den ›Vier Amigos‹. Das war gegen 23 Uhr. Er ging raus, winkte mir zu. Ich blieb an meinem Tisch. Sie können ja meine Freunde fragen.«
»War er alleine?«
»Ja.« Sie wischte sich die Tränen ab. Fett reichte ihr ein neues Papiertaschentuch.
»Scheiße. Wie ist das passiert?« Marion Schnell pendelte zwischen Wut und Trauer.
»Darüber können wir noch nichts sagen.«
»Sie sind doch von der Mordkommission. Wie ist er ermordet worden? Wer tut so etwas?«
»Frau Schnell, auch Selbstmord kommt in Betracht. Sie kennen doch den Satz aus jedem ›Tatort‹: Wir stehen am Anfang der Ermittlungen.«
»Quatsch. Wilfried Brauers hätte nie Selbstmord begangen. Auch wenn er in letzter Zeit etwas nachdenklicher war, weil er so viele Bälle in der Luft hatte.« Marion Schnell blickte ernst und bestimmt. »Das Einkaufszentrum ›Karls-Quartier‹ ist doch gerade fertig. Die Kaufverträge für Objekte in Bonn, Neuwied, das neue Schwimmbad in Düren sind unterschriftsreif. Bei Heimbach an der Rur der Ferienpark für die Niederländer. Sogar irgendwo in Polen bei Salino oder Solina plante er ein riesiges Objekt. Nächstes Jahr sollte er den Vorsitz des Lions Club Salvator übernehmen. Wilfried hat sich nicht umgebracht.«
»Hatte er Feinde? Ist Ihnen etwas aufgefallen?« Schmelzer schaltete sich ein.
»Neid, Konkurrenz. Die großen Macher können Sie an einer Hand abzählen. Wilfried war einer von ihnen. Immer im Wettbewerb. Das war Alltag.«
»Geht es etwas konkreter?«
»Nein. Wilfried war korrekt. Konkurrenz ja, keine Drohungen.«
»Seine