AUS DEM ENGLISCHEN
VON ANNE EMMERT
EDITION NAUTILUS
Die Erzählung »Babys machen« erschien erstmals auf Deutsch im KULTUR SPIEGEL, April 2015.
Die Erzählung »Blue Monday« erschien erstmals auf Terraform, motherboard.vice.com, 22. Oktober 2015.
Die Erzählung »Das Haus der Unterwerfung« erschien erstmals unter dem Titel »Das Haus des Rückzugs« in der Übersetzung von Michael Ebmeyer im Freitag, Nr. 52/53 2015.
Alle weiteren Erzählungen werden hier erstveröffentlicht.
Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2016 Erstausgabe des vorliegenden Buches März 2016 Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg www.majabechert.de 1. Auflage ePub ISBN 978-3-96054-001-4
Babys machen
Annie kam schlecht gelaunt und in einem übergroßen Morgenmantel die Treppe herunter, Tommy auf der Hüfte. »Ich setze Kaffee auf«, sagte sie. »Dann müssen wir reden.«
»Lass mich den Kaffee machen.« Simon sprang auf und hantierte an der Maschine herum, die in seinen Augen viel komplizierter war als nötig. Wie alles andere in diesem Haushalt schien sie mit der Zeit immer komplexer zu werden.
Annie liebte raffinierten Kaffee, und Simon hatte ihr diese Maschine von seinem ersten anständigen Gehalt zum Hochzeitstag gekauft. Sie war silbern und schlank und doppelt so groß wie die Mikrowelle, und Annie vergötterte sie. Trotzdem war sie ihr nicht gut genug. Ständig bastelte sie daran herum. Hier ein Extra, mit dem sich die Sahne um zusätzliche drei Grad vorwärmen ließ, dort eine Vorrichtung, die das Mahlwerk während des Betriebs abkühlte, damit die Bohnen nicht verbrannten. Das war eine der Begleiterscheinungen des Zusammenlebens mit einer Robotikingenieurin. Nie konnte sie aufhören herumzubasteln. Nichts war je endgültig fertig. Nichts war ihr gut genug.
Nun rankte sich also ein Wirrwarr aus zusätzlichen Drähten und Kabeln um die Kaffeemaschine, und egal wie oft Annie es ihm zeigte – sieh mal, es ist ganz einfach, du drückst nur siebzehn Sekunden lang den kleinen blauen Knopf hier, so –, Simon bekam es nie richtig hin.
Heute schaffte er fast jeden der Handgriffe, während Annie das Baby in den Hochstuhl schnallte. Sie machte leise Gurrlaute, wie damals, erinnerte sich Simon, als sie für ihn gurrte, in jenen magischen Monaten, als sie frisch verliebt waren, bevor sie ihre Doktorarbeit begonnen hatte.
Dem hinteren Teil der Kaffeemaschine entwich ein unheilvoller Zischlaut. Annie bedachte Simon mit einem enttäuschten Blick wie einen süßen Welpen, der seinen Haufen auf den Läufer gesetzt hat, und kümmerte sich selbst um die Maschine. Wieder einmal.
Als der Kaffee fertig war, reichte Simon ihr das dampfende Getränk, dunkel und süß, der braune Zucker genau richtig dosiert. »Danke«, sagte sie, als hätte sie ihn nicht so gut wie allein gemacht. Er warf ihr ein Lächeln zu, dieses breite kerngesunde amerikanische Lächeln mit den beiden Grübchen, eins auf der Wange und eins am Kinn, die sie so liebte. Geliebt hatte. Immer noch liebte.
»Also«, sagte Annie. »Ich möchte gern mit dir darüber reden, was gestern passiert ist.«
Die Geradlinigkeit, mit der sie immer direkt zur Sache kam, hatte er früher an ihr geliebt. Mittlerweile schien es unweigerlich um Sachen zu gehen, die er verpatzt hatte. Eine neue Enttäuschung, die er ihr bereitet hatte.
Tommy saß im Hochstuhl und schlug mit der leeren Schnabeltasse auf den unbenutzten Teller. An der Stirn hatte er einen winzigen Kratzer, der ihn aber offenbar nicht weiter störte.
»Erklär mir doch bitte noch mal, warum du den Kindersitz auf Plop hast stehen lassen.«
Plop war ihr Auto, ein Honda, den sie in den frühen Jahren ihrer Ehe gebraucht gekauft hatten und der dank Annies technischem Geschick immer noch lief. Die letzten drei Buchstaben des Nummernschildes waren PLP. Sie hatten in diesem Auto tolle Zeiten erlebt – wenn er es sich genau überlegte, waren sogar phantastische Zeiten dabei gewesen. Und dann, gestern …
»Ich habe die Einkäufe im Kofferraum verstaut«, sagte Simon langsam.
Er musterte Annies schmales kluges Gesicht, die dunklen Augen, denen nichts entging. »Das Baby habe ich für die Zeit auf dem Autodach abgestellt. Ich bin eingestiegen. Habe den Motor gestartet. Ich hatte ganz vergessen …«
»Du hattest vergessen, dass das Baby noch auf dem Dach war.« Er wünschte, sie hätte nicht diesen verdammt freundlichen Ton am Leib, wie ein Priester, der die Beichte abnimmt.
»Und ich bin angefahren, und da ist der Kindersitz vom Dach gerutscht und auf den Asphalt gefallen.«
Richtig unheimlich war, dachte Simon, dass Tommy nicht geweint hatte. Keinen Laut hatte er von sich gegeben. Simon hatte Plop mit einer Vollbremsung zum Stehen gebracht, und da war Tommy: Er hing kopfüber in seinem himmelblauen Autositz und strampelte mit den pummeligen kleinen Armen und Beinen. Simon sah immer und immer wieder nach, ob ihm etwas zugestoßen war, ob er unter Schock stand, aber da war nichts, nur dieser kleine Kratzer, dort, wo das Baby mit der Stirn auf den Asphalt geknallt war. Keine Schwellung, kein Blut.
Natürlich. Wie auch.
»Es war keine Absicht. Ich habe einfach nicht aufgepasst.«
»Ich weiß, du hast nicht aufgepasst. Genau das ist das Problem, dass du nicht aufpasst«, sagte Annie ruhig. »Wenn die Dinge anders gelagert wären, hätte Tommy schlimme Verletzungen davontragen können. Er hätte sterben können.«
»Aber er ist eben kein richtiges Baby!« Simon stand auf.
Annie blinzelte.
Eine schreckliche Sekunde lang sah sie ihn nur an.
»Vielleicht nicht für dich«, sagte sie schließlich, »aber für mich ist er ein richtiges Baby. Er ist unser Baby.«
»Er ist nicht unser Baby! Er ist dein Baby! Du hast ihn gemacht, nicht ich!«
Das würde er noch bereuen. Aber er konnte einfach nicht an sich halten. Sein Magen verkrampfte sich, und er spürte die Worte blubbernd in der Kehle aufsteigen wie Kotze.
»Er ist eine Maschine. Ein Gerät.«
Annie stand auf und schnappte sich Tommy. Die leere Schnabeltasse fiel krachend zu Boden.
»Daddy meint das nicht so«, flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht in Tommys nussbraunen Locken, eine wie die andere aus beständiger Glasfaser gefertigt. »Daddy ist müde und gestresst. Er hat es nicht so gemeint.«
»Ich habe es so gemeint«, sagte Simon gefasst. »Wir hätten ein normales Kind bekommen können, wie normale Leute, aber von mir ist nichts drin in diesem – in diesem …«
Annie hob die Hand. »Halt«, sagte sie. Simon schloss den Mund.
»Sieh ihn dir an, Simon«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Sieh ihn dir doch nur an.«
Annie hielt ihm das Baby hin wie eine Opfergabe. Tommy schenkte ihm sein zahnloses Lächeln. In seinem winzigen Gesicht bildeten sich zwei Grübchen, eins auf der Wange und eins auf dem Kinn.
Annie wollte nie schwanger werden. Das ist so eine Sauerei, sagte sie, und die Scherereien und der Schmerz, und was, wenn etwas schiefging? Sie hatte ja Recht. Immerhin war es nicht Simon, der das Kind neun Monate im Bauch tragen musste, und es war nicht Simon, der sich mit Übelkeit, geschwollenen Beinen und schmerzhaften Wehen herumschlagen musste. Aber er wusste, dass noch mehr dahintersteckte.
Annies Mutter war nach der Geburt in tiefe Trauer