ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG. Gisbert Haefs. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gisbert Haefs
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957659132
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beim freiwilligen Reparaturtrupp des Kinderspielplatzes des Areals blicken lassen, und er ist mehrfach an auf Parkbänken der Arealerholungswiese herumlungernden unerwünschten Elementen, die dort öffentlich Alkohol konsumierten, vorbeigegangen, ohne sie zu ermahnen oder sie dem Abschnittsbeamten zu melden. Stattdessen wurde er gesehen, wie er sich in zweifelhaften Etablissements herumgetrieben hat.« Jetzt schaute Sachbearbeiter Weber sehr pikiert.

      »Was meinen Sie mit ›zweifelhaften Etablissements‹?«

      »Eckkneipen, Tränken, Schankwirtschaften, Flaschenbierkioske. Sein Sozialscore liegt gerade noch einen Hauch über vierhundert –, darunter müssten wir für ihn zwangsweise Eintritte in gemeinnützige Vereine organisieren –, weil er immer noch den Sonderbonus aufzehrt, da er im vergangenen Monat im kommunalen Freibad einen Jungen vor dem Ertrinken gerettet hat.«

      Sie war bei dieser heroischen Tat dabei gewesen und hatte auch einige Tage später stolz mitbekommen, wie er vom Regiopräsidenten persönlich eine Rettungsurkunde überreicht bekommen hatte plus einem Guthaben von tausend Scorepunkten, die er beliebig auf seine Einstufungen verteilen durfte.

      »Tja, und dann sind da noch seine politischen Einstellungen. Wohlgemerkt: Wir leben in einem freien Land, in dem jeder uneingeschränkt sagen darf, was er will, aber gegen unsere Feinde, Freunde behandelt man stets freundlich und mit Hochachtung, und die Chinesen sind seit vielen Jahrzehnten unsere Freunde und Wohltäter. Außerdem ist laut europäischer Verfassung jede politische Äußerung auf die optoakustisch gesicherte Privatwohnung und auf speziell lizenzierte Stammtische beschränkt, deren Gesprächsrunden von einem Blockwart angeleitet werden. Politik auf der Straße und in den Medien wird vom Staat formuliert und zugeteilt. Unerlaubterweise hat er die ihm übersandten und freundlicherweise vorformulierten Leserbriefe abgeändert und sie zudem an Pressemedien geschickt, die ohnehin unter verschärfter Beobachtung stehen und deren verantwortliche Redakteure bereits mehrfach zu Anleitungskursen für aufbauende Berichterstattung nach Nordkorea geschickt wurden. Daraufhin haben wir seinen Zuverlässigkeitsstatus als Bürger infrage gestellt, und er wird in den nächsten Tagen eine Vorladung des Demokratieausschusses zugestellt bekommen, der seine Wahlmündigkeit feststellt. Da wir davon ausgehen müssen, dass das Zusammenleben mit einem solch unzuverlässigen Subjekt sich mindestens unterschwellig auch auf Sie auswirkt, haben wir Ihren Politikscore stark auf sechshundertfünfzig absenken müssen.«

      Silvia wurde abwechselnd heiß und kalt. All ihre Euphorie war mittlerweile verflogen. Sie spürte, dass sie in Gefahr geraten konnte, Segnungen des Sozialsystems nur noch eingeschränkt wahrnehmen zu können. Sie musste gegensteuern, um ihren Score wieder zu erhöhen.

      Doch bevor sie nach entsprechenden Aktivitäten fragen konnte, empfahl der Sachbearbeiter bereits: »Gehen Sie heute noch zu Ihrem Gewerkschaftssekretär, der kann Ihnen nicht nur Rhetorikkurse zur Argumentationsstärkung gegenüber Sozialschädlingen anbieten, sondern Sie auch als Motivatorin zu den Anonymen Anarchisten vermitteln, wo Sie Ihre Negativerfahrungen als Abschreckung weitergeben können. Gerade andere wieder in die Gesellschaft zurückzuholen, bringt Punkte! Außerdem bietet jede örtliche Volkshochschule Kurse zum Erkennen von Lügen in der Presse an – das brauchen Sie einfach, um jeder politischen Erörterung gewachsen zu sein.«

      Das schätzte sie so am Gesoa: Jeder bekam seine Chance, sich für die Gemeinschaft nützlich zu machen und mit einer entsprechenden Scoreaufwertung belohnt zu werden. Keiner blieb auf Dauer außen vor.

      »Wir helfen Ihnen sogar, sich elegant von Ihrem aktuellen Partner zu trennen«, kam Sachbearbeiter Weber nun zum entscheidenden Punkt ihres Gesprächs. »Da der Arbeitgeber von Herrn Scheuffele, der Weltkonzern Great Wall Accumulators in Reutlingen, natürlich via Sozialdatenabgleich zeitnah über alle Scoreänderungen informiert wurde, ist sein Tätigkeitsprofil am Arbeitsplatz rigoros angepasst worden, was zwangsläufig Auswirkungen auf die Größe des ihm zustehenden Wohnraums nach sich zieht. Das wurde ihm mitgeteilt, aber er hat die elektronischen Weisungen unterdrückt und nicht darauf reagiert und sogar die Kontrollmeldungen an Sie gelöscht. Sein Heiratsantrag an Sie war nur ein untauglicher Versuch, von Ihren Scorewerten zu profitieren. Denn so wie seine Werte Ihnen anteilig angerechnet werden, ist das umgekehrt genauso: Ein Zusammenleben mit einem sozialverantwortlichen Partner kann – zwar nur in kleinem Umfang – manches ausgleichen oder zumindest temporär überdecken. Aber er wird jetzt lernen, dass seine Strategie nicht aufgeht. Er wird in den Werksferien nicht mit Ihnen in einen Erholungsurlaub in eines unserer Freizeitressorts reisen. Stattdessen ist ihm Aktivurlaub in landwirtschaftlichen Produktionsstätten mit Spargelstechen tagsüber und Seminaren abends zur Auffrischung der Gemeinschaftsmotivation sowie nächtlichen Hypnosebändern verordnet worden. Und danach schickt ihn Great Wall Accumulators drei Jahre zum ehrenvollen Arbeitseinsatz zur Lithiumchloridgewinnung in die chilenischen Salzwüsten, wo er sich um den Abbau der wichtigsten Erzressource für Akkumulatoren verdient machen kann – was ihm durch seinen Körpereinsatz einen hohen Scorewert verspricht. Sie sehen, wir kümmern uns um jeden.«

      Silvia fragte nun scheu: »Und was geschieht mit mir?«

      Jetzt strahlte der Sachbearbeiter regelrecht. »Sie haben das große Los gezogen. Wir haben Sie bei der Vermittlungsbörse www.LovePartner.cn angemeldet, die die Sozialscores von Männern und Frauen gleichen Alters und regionaler Nähe optimal vernetzt. Sie werden es erfahren: Auch Liebe geht über Punkte.«

      

      

      Rainer Schorm: Vote!

      Man fand seine Leiche am Montag. Er war nicht zur Arbeit erschienen und hatte nicht auf Anrufe reagiert. Da er allgemein als zuverlässig galt, hatte man umgehend eine Untersuchung eingeleitet. Jetzt stand Dominik Venter vor dem Toten und war trotz allem, was er mittlerweile wusste, fassungslos. Ein unangenehmes Gefühl des Déjà-vu stellte sich ein.

      Er hatte es nicht glauben wollen, auch wenn die Hinweise immer deutlicher geworden waren. Sperling selbst hatte längst keine Zweifel mehr gehabt – und nun war er tot. Vielleicht hatte er geahnt, was ihm bevorstand.

      Venter verzog wütend das Gesicht. Er wusste, dass er es schaffen würde, irgendjemanden zur Verantwortung zu ziehen und wie selten zuvor spürte er die Unzulänglichkeit, die seiner Position anhaftete. Offiziell diente seine Organisation, die PAP, die Polizeiliche Aufklärung im Prekariat, der Ermittlung im ständig wachsenden Bereich der Unterschicht. Der Aufwand normaler Polizeikräfte galt dort seit Langem als Zuschussgeschäft. Die PAP hatte durch eine kompromisslose Reduktion von Personal und Mitteln Abhilfe geschaffen. Tatsächlich jedoch, das war ihm bereits vor vielen Jahren klar geworden, war die einzige Funktion, die seine Dienststelle besaß, die eines Feigenblattes.

      ›Polizei light … nein: extra light!‹, dachte er mürrisch. Die Ausstattung mit Mitteln und Kompetenzen entsprach diesem Bild im Übrigen aufs Deprimierendste. Die Resignation, die ihn seit einiger Zeit beherrschte, wich in diesem Moment kalter Wut. Sperling war tot, er hatte sein Engagement mit dem Leben bezahlt, und es gab viele andere, die für weniger gestorben waren.

      Für sehr viel weniger!

      Eine Woche davor …

      Er spürte, wie das altbekannte Brennen seine Speiseröhre emporstieg. Dann bemerkte er den sauren, gleichzeitig bitteren Geschmack.

      Venter schluckte. Ein eher instinktiver Versuch, das Sodbrennen schnell loszuwerden, der natürlich zum Scheitern verurteilt war. Die Folge dieser Erkenntnis war ein unwilliges Verziehen des Gesichts zu etwas, das einem Außenstehenden wie ein Grinsen erscheinen mochte.

      »Nett hier, oder?«, erkundigte sich Kelber ironisch und warf bezeichnende Blicke in die Runde.

      Venter antwortete nicht. Wieso auch? Sekundärkommissar Kelber schien auch nicht mit einer Reaktion gerechnet zu haben, denn er fuhr fort, sich mit den Habseligkeiten des Toten zu beschäftigen.

      ›Schon wieder einer!‹, schoss es Venter durch den Kopf. Er sah sich ebenfalls etwas genauer um. Was er sah, war deprimierend, aber keineswegs ungewöhnlich: Eine kleine, ungepflegte Wohnung, die Wände glänzten lackiert. So gut wie jeder freie Quadratzentimeter