ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG. Gisbert Haefs. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gisbert Haefs
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957659132
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Formel von den Kreuzrittern, sie war innerhalb eines einzigen Jahres Realität geworden. Und waffentechnisch waren die Kreuzritter allen anderen Gruppen in kürzester Zeit weit voraus.)

      Die Ideen des Zwölfpunkteprogramms für den inneren Frieden waren ganz einfach, und sie entsprachen in jeder Hinsicht jenen demokratischen Normen, die soeben gestorben waren. Ja, im Grunde war es nur eine einzige Norm: Körperliche Gewalt, und das schloss die Androhung körperlicher Gewalt mit ein, war strikt verboten. Das Gewaltmonopol des Staates habe ich mit aller Macht durchgesetzt. Ich wollte den totalen Bürgerkrieg verhindern, und ich habe ihn verhindert.

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      Habe ich Deutschland und seine Bewohner überwacht? In jeder Hinsicht?

      Ja, natürlich habe ich das. Aber doch nur, weil ich den totalen Zusammenbruch verhindern wollte. Da waren wir angekommen: alle gegen alle. Natürlich Muslime gegen Christen. Wer um alles in der Welt hätte gedacht, dass es noch einmal eine christlich fundamentalistische Bewegung geben könnte? Die Atheisten und die Aufgeklärten standen ungefähr fünf Jahre verdattert herum, weil sie nicht wussten, auf welche Seite sie sich schlagen sollten. Zuerst haben sie betont, dass beide Richtungen gleich unvernünftig seien. Jede Religion sei – Methamphetamin für das Volk. Aber dann, als sie gesehen haben, dass solche Sätze keinen Sinn mehr ergeben, weil das halt immer nur ein Kommentieren der Straßenschlachten aus der Entfernung war, da haben sich die Aufgeklärten aufgespalten, und zwei Drittel sind auf die Seite der Muslime gewandert und ein Drittel auf die Seite der Christen. Ein winziger Rest der einstigen intellektuellen Oberschicht hat sich eingeigelt und versucht, in einigen dekadenten Salons zu überleben.

      Warum, so habe ich gefragt, konnten die Leute nicht dreißig Jahre vorher die Zeichen lesen? Da hat es die Zeitungen gegeben. Es wäre so viel einfacher gewesen, damals. Warum haben sie gedacht, wenn sich warnende Stimmen erhoben haben, dass das alles nur Panikmache sei? Warum haben sie nicht in die Geschichte geschaut? Es wäre ein Leichtes gewesen, ein paar historische Parallelen herzustellen.

      1880 war eine prima Zeit. Dann der Erste Weltkrieg. Damit war das Drama der ersten Jahrhunderthälfte eingeläutet. Dann also die Nazis und der große Untergang. Wenn sich gesellschaftliche Konflikte nicht mehr ausgleichen lassen, wenn die Möglichkeiten des Miteinanderredens zu Ende gehen, dann kommt der große Moloch und sieht sich um. Krieg oder Bürgerkrieg? Es gibt auf einmal keinen Ausweg mehr. Früher hat man den Krieg mit den anderen Ländern gewählt. Diese Möglichkeit hat sich jetzt nicht mehr ergeben. Ich habe nicht verstanden, warum es nicht mehr möglich war, einen innereuropäischen Krieg anzufangen. Oder unter irgendeinem Vorwand einen Krieg gegen Russland zu führen. Es ging nicht mehr. Und also ging es nur mit einem Fast-Bürgerkrieg weiter.

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      Damals, fünf Jahre, bevor ich die Macht übernommen habe, war die Lage schon so weit verfahren, dass das mit dem Verbot jeglicher körperlicher Gewalt ein frommer Wunsch geblieben wäre, wenn ich später nicht gleichzeitig die entsprechenden Überwachungsmaßnahmen mit eingeführt hätte. Wir hatten seit Langem die technischen Möglichkeiten, um wirklich ›in die Köpfe der Menschen hineinzusehen‹. Bis dahin hatte das zivile, feinsinnigen Standards verpflichtete Bürgertum laut aufgeschrien. Dass solche Maßnahmen unethisch seien und niemals zugelassen werden dürften. Aber es war dann allen Menschen in diesem chaotischen Deutschland schnell klar, dass diese schöne Zeit, die Zeiten des Friedens, gerade zu Ende gegangen war. Mein Gott, ist es langweilig, wenn man sich politische Abläufe vergegenwärtigt! Aber ich komme nicht darum herum. Zwei Tage später habe ich, der kleine niedersächsische Abgeordnete, im Landtag meine Rede gehalten. Meine Freunde haben dafür gesorgt, dass diese Rede rasch landesweit bekannt wurde, und schon zwei Tage später stand der Regierungswechsel in Berlin an, und ich stand auf einmal zur Wahl, ohne dass es allgemeine Wahlen gegeben hätte. Der Bundestag stimmte ab, und ich – ich war auf einmal Kanzler dieses Landes.

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      Ja, wir haben sofort damit begonnen, all jene technischen Überwachungsmaßnahmen einzuleiten, die damals schon möglich waren. Eine wissenschaftliche Forschergruppe, zusammengesetzt aus den verschiedensten Wissenschaftsrichtungen, hatte vor knapp zehn Jahren das Modell entworfen, mit dem es möglich war, Verbalradikale von Terroristen zuverlässig zu unterscheiden.

      Im Grunde genommen sah die Sache so aus: Achtzig Prozent der Bürger, auch wenn sie mit großem Geschrei irgendwo auftraten, schreckten vor jeder Form körperlicher Gewalt zurück. Diese Menschen blieben vollständig unbehelligt. Die anderen zwanzig Prozent mussten zu einem Terroristentest antreten, der zuverlässig festlegte, ob sie Gewalttäter waren oder nicht.

      (Hoppla, eh ich's vergesse: BILD Online gibt es immer noch! Wer anders als die BILD-Leute hätten dieses schöne Wort »Terroristentest« so rasch kreieren können?)

      Wir waren ein wenig überrascht, dass sich die Gewalttäter nicht unter den Gruppen gleich verteilten. Es waren weniger – deutlich weniger Muslime, als wir dachten, und es waren mehr von den sogenannten liberalen Gruppierungen, die behaupteten, einen liberalen Staat im Sinne des Grundgesetzes erhalten zu wollen. Es war für mich nicht verwunderlich, dass sich jetzt eine dieser gewalttätigen Liberalengruppen durchgesetzt hat. Die Nachfolgeorganisation der FDP, die sich – es darf noch immer gelacht werden! – auch tatsächlich so nennt. Kein langes Herumreden: Diese neue FDP hat jetzt die Macht. Ich bin der Letzte, der politische Realitäten nicht anerkennt.

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      Wieder so eine Erinnerung, die leuchtend wie ein Christbaum in mein Gedächtnis tritt: Ich hatte im Punkt sieben meines Programms etwas festgelegt, das für einen sich lang hinziehenden Aufschrei im Internet sorgte: Alle Gewalttäter aller Gruppen sollten nach einer Zufallsauswahl in Parzellen zusammengefasst werden, ohne jede Waffe. Das mit dem Waffenverbot war das Einzige, das überwacht wurde. Es gab keine Polizei in den Parzellen, die die Gruppen trennte. Wenn sie sich gegenseitig mit den Händen oder irgendwelchen alltäglichen Gegenständen umbringen wollten, so blieb das den Bewohnern dieser Parzellen selbst überlassen. Meine These war: Es würden sich, wenn es keine Polizei gab, die dazwischen ging, nach einer kurzen Übergangszeit Macht- und auch Polizeistrukturen in den Parzellen herausbilden. So ist es dann gekommen.

      Es hat diesen kleinen, kindischen Aufschrei gegeben. Der Untergang des Abendlandes und all seiner großen demokratischen Errungenschaften wurde beschworen. Die, die auf meiner Seite waren, wiesen wieder darauf hin, dass die Erschrockenen nur aus dem Fenster zu sehen brauchten, um den realen Untergang Deutschlands in Augenschein zu nehmen. Meine Leute wiesen auch darauf hin, dass wir nur gut hundert Jahre zurückschauen mussten, um zu sehen, wie rasch ein Land in die Barbarei kippen konnte. Wie dem auch sei, auf einmal hatte ich die Macht, und ich muss sagen, die Macht war mir egal. Die Gewalttäter, die mit den Mitteln der fortgeschrittenen Wissenschaft ausgemacht wurden, kamen in diese Großgefängnisse, die Parzellen, und am Anfang, im ersten Jahr, haben sich tatsächlich ungefähr vierhundert Menschen gegenseitig umgebracht. Wir haben allerdings verhindert, dass über diese sinnlosen Massaker auch nur irgendwie berichtet wurde.

      Als die Gewalttäter bemerkten, dass sie keinerlei öffentliches Echo hatten, erstarb die Gewalt wie ein Feuer, dem der Sauerstoff ausgeht. Die Leute mitsamt ihren Aggressionen rauften sich zusammen und gaben Ruhe. Vereinzelt wurden sogar Polizeieinheiten aufgestellt, aber in den meisten Fällen war das gar nicht mehr nötig.

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      Soll ich darüber auch noch sprechen? Ich glaube schon. Meine Maßnahmen betrafen an dieser Stelle ja eines der größten Probleme, die es seinerzeit in dieser Gesellschaft gab. Ich meine die Überalterung. Die Rentensysteme trugen nicht mehr, der Pflegenotstand, den es früher einmal gegeben hatte, war längst zu einer Nichtpflegekatastrophe geworden, die Menschen, kaum dass sie fünfzig Jahre alt geworden waren, starrten nach vorne, weil sie wussten, dass sie auf ein unsäglich elendes Ende zusteuerten.

      Ich habe zwei Kommissionen eingesetzt, die sich aller Fragen annehmen sollten. Ungewöhnliche Vorschläge waren ausdrücklich erwünscht. Man kann das Verrückte, Ungewöhnliche, auch das Verbotene immer noch ausschließen, hieß es in meinem Memo.

      Es