Metamorphosen. Ovid. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ovid
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159608006
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Eingeweide. Wild vor Schmerz drehte sie den Kopf dem eigenen Rücken zu, blickte die Wunde an und biß in den Speerschaft, der fest darin stak, [70] lockerte ihn mit großer Anstrengung nach allen Richtungen und riß ihn mit Mühe aus dem Rücken. Die eiserne Spitze freilich blieb in den Knochen stecken. Doch jetzt, nachdem zu ihrer üblichen Wut ein neuer Anlaß hinzugekommen war, schwoll ihr der Hals, und die Adern füllten sich. Weißlicher Schaum trieft rings vom verderbenbringenden Rachen, [75] von den Schuppen gescheuert, dröhnt die Erde, und der schwarze Atem aus dem Höllenrachen schwängert die Luft mit Gift. Bald schließt sie ihre Windungen zu einem ungeheuren Kreis, bald reckt sie sich empor, aufrecht wie der Stamm eines hohen Baumes, bald stürmt sie mit wilder Wucht dahin wie ein von Regen angeschwollener Strom [80] und wälzt mit der Brust Wälder nieder, die ihr im Wege stehen. Da weicht Agenors Sohn etwas zurück, hält in seinem Löwenfell den Angriffen stand und hemmt mit vorgestreckter Lanze den Rachen, der ihn bedrängt. Der Lindwurm ist wütend, versucht vergeblich, das harte Eisen zu verwunden, und will die Zähne in die Speerspitze schlagen. [85] Schon hatte vom giftigen Gaumen Blut zu fließen begonnen und das grüne Gras mit Rot besprengt. Doch die Verwundung war nur leicht, weil sich die Schlange aus der Reichweite der Stöße zurückzog, den verwundeten Hals nach hinten bog, durch Ausweichen verhinderte, daß ein Stoß richtig saß, und die Waffe nicht tiefer eindringen ließ. [90] Endlich stieß Agenors Sohn ihr das Eisen in die Kehle, drängte und schob sie immer weiter vor sich her, bis der Zurückweichenden eine Eiche im Wege stand und ihr Nacken am Holz aufgespießt wurde. Unter der Last der Schlange bog sich der Baum, und er ächzte, weil das Ende des Schwanzes sein Holz peitschte. [95] Während der Sieger den besiegten Feind in all seiner Länge betrachtete, ließ sich plötzlich eine Stimme vernehmen – man konnte nicht erkennen, woher sie kam, aber sie ließ sich vernehmen –: »Was siehst du, Sohn Agenors, die getötete Schlange an? Auch dich wird man als Schlange sehen.«

      Für lange Zeit verlor er vor Schrecken Farbe und Fassung zugleich, [100] und es sträubte sich ihm das Haar in kaltem Entsetzen. Doch siehe, da kommt seine Schutzgöttin Pallas durch die Luft herab aus der Höhe und gebietet ihm, die Erde umzupflügen und die Drachenzähne zu säen, den Keim eines künftigen Volkes. Er gehorcht, drückt den Pflug nach unten, zieht eine Furche [105] und streut, wie befohlen, die Zähne als Menschensaat auf den Boden. Da begannen – o Wunder! – die Erdschollen sich zu bewegen, und zuerst zeigte sich in den Furchen eine Lanzenspitze, dann Sturmhauben, auf denen ein bunter Helmbusch nickte; dann erscheinen Schultern, Brust und Arme, die mit Waffen beladen sind, [110] und es wächst eine Saat von Helden heran, die Schilde tragen. So geschieht es im festlichen Theater, wenn der Vorhang heraufgezogen wird: Die darauf abgebildeten Figuren tauchen auf und zeigen zuerst die Gesichter und allmählich das Übrige, bis die ganzen Gestalten sanft aufsteigend hervorkommen, schließlich vollständig zu sehen sind und unten die Füße auf den Rand setzen. [115] Erschrocken über den neuen Feind, schickte sich Cadmus an, zu den Waffen zu greifen. »Tu’s nicht«, ruft einer aus dem Volk, das die Erde hervorgebracht hatte, »und misch dich nicht in unseren Bürgerkrieg.« Dabei erschlägt er einen seiner erdgeborenen Brüder aus der Nähe mit dem erbarmungslosen Schwert. Ihn selbst tötet ein Wurfspieß aus der Ferne. [120] Auch derjenige, der ihm den Tod gegeben hat, lebt nicht länger als er und haucht das Leben aus, das er gerade erst empfangen hat. In gleicher Weise wütet die ganze Schar, und im Bruderkrieg fallen die soeben aus der Erde Aufgestiegenen, indem sie sich gegenseitig Wunden zufügen. Schon schlug die Jungmannschaft, der nur eine kurze Lebenszeit beschieden war, [125] mit warmer Brust die blutige Mutter Erde. Nur fünf überlebten; einer von ihnen war Echion. Er warf seine Waffen auf Befehl der Tritonis zu Boden, verlangte einen brüderlichen Friedenspakt und willigte auch selbst ein. Diese fünf nun hatte der Fremdling aus Sidon als Helfer bei seinem Werk, [130] als er auf Geheiß des Phoebusorakels die Stadt gründete.

      Schon stand Theben. Es konnte schon so aussehen, als hättest du, Cadmus, durch deine Verbannung dein Glück gemacht. Als Schwiegereltern hattest du Mars und Venus gewonnen; hinzu kam die Nachkommenschaft von einer so edlen Gattin: so viele Töchter und Söhne und geliebte Enkel, [135] auch diese schon erwachsen. Doch man muß immer den letzten Tag eines Menschen abwarten, und keinen darf man vor seinem Tode und dem Leichenbegängnis glücklich nennen.

      Actaeon

      Den ersten Anlaß zur Trauer inmitten von so viel Glück bot dir, Cadmus, dein Enkel, das fremdartige Geweih, das ihm auf der Stirn wuchs, [140] und ihr Hunde, die das Blut eures Herrn sättigte. Doch bei genauerem Zusehen wird man an ihm keine Sünde finden, sondern Fortuna die Schuld geben müssen. Denn was für eine Sünde lag in seinem Irrtum?

      Es gab daselbst einen Berg; der war gefärbt vom Blut verschiedener Tiere. Schon hatte der Mittag die Schatten verkürzt, [145] und die Sonne war von Morgen und Abend gleich weit entfernt; da redet der junge Hyanter seine Jagdgenossen, die abseits vom Wege die Schlupfwinkel durchstreiften, mit sanfter Stimme an: »Netze und Eisen sind feucht, ihr Gefährten, vom Blut der Tiere, und der Tag hat uns genügend Glück gebracht. Wenn das nächste Morgenrot [150] auf krokusfarbenen Rädern das Tageslicht heraufführt, werden wir wieder an das Werk gehen, das wir uns vorgenommen haben. Jetzt aber ist der Sonnengott von Ost und West gleich weit entfernt und läßt die Felder vor Hitze aufspringen. Stellt euer gegenwärtiges Geschäft ein und nehmt die geknüpften Netze weg.« Die Männer führen den Befehl aus und unterbrechen ihre Arbeit.

      [155] Dort war ein Tal, dicht bewachsen mit Kiefern und spitzen Zypressen; es hieß Gargaphie und war der hochgeschürzten Diana heilig. In seinem hintersten Winkel liegt, von Wald umgeben, eine Grotte, die nicht künstlich ausgestaltet ist. Die Natur hatte in freier Schöpferlaune ein Kunstwerk vorgetäuscht, denn aus lebendem Bimsstein [160] und leichtem Tuff hatte sie einen gewachsenen Bogen gespannt. Rechts plätschert ein Quell, dessen seichtes Wasser durchsichtig ist. Ein grasbewachsenes Ufer umsäumt sein breites Becken. Hier pflegte die Göttin der Wälder, vom Jagen ermattet, ihre jungfräulichen Glieder mit klarem Tau zu übergießen. [165] Dort eingetreten, übergab sie einer der Nymphen, ihrer Waffenträgerin, den Wurfspieß, den Köcher und den entspannten Bogen; eine andere fing mit den Armen das abgestreifte Kleid auf; zwei andere lösen ihr die Schuhriemen. Crocale, die Tochter des Ismenus, ist geschickter als die übrigen und schürzt das Haar, das der Göttin lose in den Nakken fällt, [170] zu einem Knoten – obwohl sie ihr eigenes offen herabhängen ließ. Es schöpfen das Naß Nephele, Hyale, Ranis, Psecas und Phiale, und sie gießen es aus bauchigen Gefäßen über sie. Während sich dort Titania im vertrauten Gewässer baden läßt, siehe, da kommt der Enkel des Cadmus, der einen Teil seines Tagewerks aufgeschoben hat, [175] durch den unbekannten Wald, den er mit zögernden Schritten durchstreift, in jenes Gehölz. So führte ihn das Verhängnis. Kaum hatte er die Grotte mit der taufrischen Quelle betreten, als die Nymphen beim Anblick des Mannes sich nackt, wie sie waren, an die Brust schlugen, mit plötzlichem Heulen den ganzen Wald erfüllten, [180] sich um Diana drängten und sich schützend vor sie stellten. Doch größer als sie ist die Göttin selbst und überragt alle um Haupteslänge. Wie Wolken sich färben, wenn die Sonne sie von vorn anstrahlt, oder wie die purpurne Morgenröte glüht, [185] so war die Farbe von Dianas Antlitz, als sie ohne Gewand gesehen wurde. Obwohl ihr Nymphenschwarm sie umdrängte, drehte sie sich schräg zur Seite und wandte das Antlitz rückwärts. Zwar hätte sie gerne Pfeile zur Hand gehabt; doch da sie nur Wasser hatte, schöpfte sie einfach davon und überschüttete damit das Gesicht des Mannes. [190] Und während sie ihm das Haar mit dem rächenden Naß besprühte, fügte sie folgende Worte hinzu, die kommendes Unheil verkündeten: »Jetzt darfst du gern erzählen, daß du mich unverhüllt gesehen hast – wenn du es noch erzählen kannst!« Das war ihre ganze Drohung, und sie läßt auf dem besprengten Haupt das Geweih des langlebigen Hirsches wachsen [195] und den Hals sich ausdehnen, versieht die Ohren oben mit Spitzen, gibt ihm Füße statt der Hände, lange Schenkel statt der Arme und hüllt ihm den Leib in ein geflecktes Fell. Furcht gab sie ihm auch noch ein. Es flüchtet der Held, Autonoes Sohn, und mitten im Lauf wundert er sich über die eigene Schnelligkeit. [200] Doch sobald er Gesicht und Geweih im Wasserspiegel erblickte, wollte er sagen: »Wehe mir!«, doch die Stimme gehorchte ihm nicht. Er stöhnte auf: Das war jetzt seine Stimme, und Tränen strömten ihm übers Gesicht, das nicht mehr das seine war. Nur das Bewußtsein blieb das alte. Was tun? Nach Hause ins Königsschloß zurückkehren [205] oder sich im Wald verstecken? An dem einen hindert ihn die Furcht, an