Metamorphosen. Ovid. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ovid
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159608006
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ans Ende der Welt [255] und verbarg sein Haupt, das bis heute nicht wieder entdeckt ist. Seine sieben Mündungsarme sind staubig und leer, sieben Täler ohne Flußlauf. Dasselbe Geschick läßt den thracischen Hebrus zusammen mit dem Strymon austrocknen und die abendländischen Flüsse: den Rhein, den Rhodanus, den Padus und den Tiber, dem die Weltherrschaft verheißen war.

      [260] Der ganze Erdboden wird rissig, durch die Ritzen dringt Licht in den Tartarus und erschreckt den König der Unterwelt und seine Gattin; das Meer schrumpft, und was eben noch Gewässer war, ist eine trockene Sandfläche; Berge, die das tiefe Meer bedeckt hatte, kommen zum Vorschein und vermehren die weitverstreuten Cycladen. [265] In die tiefsten Tiefen tauchen die Fische, und die Delphine wagen es nicht, sich in gekrümmtem Sprung über die See in die vertraute Luft zu erheben. Leblose Robbenleiber schwimmen rücklings auf dem Meeresspiegel. Selbst Nereus, Doris und ihre Töchter sollen sich in warm gewordenen Grotten versteckt gehalten haben. [270] Dreimal hatte Neptun sich erkühnt, die Arme und sein finster blickendes Gesicht aus dem Wasser hervorzustrecken, dreimal ertrug er die glutheiße Luft nicht. Doch die Mutter Erde, vom Meer umgeben, wie sie war, inmitten der Gewässer der See und der Quellen, die sich von allen Seiten um sie drängten und sich im Innern der schattenspendenden Mutter versteckt hatten, [275] erhob – vertrocknet bis in die Kehle – ihr bedrücktes Gesicht, hielt sich die Hand vor die Stirn, erschütterte alles mit starkem Beben, sank etwas in sich zusammen, saß weiter unten als sonst und sprach mit heiserer Stimme folgendermaßen: »Ist dies dein Ratschluß und habe ich dies verdient, was lassen dann noch deine Blitze auf sich warten, [280] oberster der Götter? Soll ich schon durch die Gewalt des Feuers vergehen, so laß mich wenigstens durch dein Feuer vergehen und mich in meinem Untergang damit trösten, daß du der Urheber bist. Kaum kann ich den Mund für diese wenigen Worte öffnen« – die Hitze schloß ihr die Lippen – »hier sieh nur mein ausgedörrtes Haar und so viel Asche in meinen Augen und auf meinem Gesicht! [285] Zahlst du mir diesen Zins, erweisest du mir diese Ehre für meine Fruchtbarkeit, meinen treuen Dienst, dafür, daß ich mich vom krummen Pflug und der Hacke verwunden und das ganze Jahr schinden lasse, daß ich dem Vieh das Laub liefere, dem Menschengeschlecht das Getreide als unblutige Nahrung und auch euch Göttern den Weihrauch? [290] Aber nimm an, ich hätte den Tod verdient – was hat das Wasser, was dein Bruder verbrochen? Warum schrumpft das Meer, das ihm durchs Los verliehen ist, warum muß es jetzt weiter vom Himmel entfernt sein? Läßt du dich aber weder deinem Bruder noch mir zuliebe rühren, so erbarme dich wenigstens deines Himmels! Sieh ihn dir an beiden Enden an! [295] Beide Pole rauchen; wenn sie das Feuer versehrt, werden eure Hallen einstürzen. Schau, selbst Atlas leidet Qualen und kann die glühende Himmelsachse kaum auf den Schultern halten! Wenn Meer und Lande vergehen und die Burg des Himmels, dann werden wir wieder ins alte Chaos gewirbelt. [300] Ist noch etwas übrig, so entreiß es den Flammen und sorge für das Wohl der Welt!«

      Die Erde hatte zu Ende gesprochen, denn sie konnte die Hitze nicht länger ertragen und nichts mehr sagen, zog ihr Antlitz in sich selbst zurück und verbarg es in Höhlen, die näher bei der Unterwelt lagen.

      Doch der allmächtige Vater rief die Himmlischen und auch [305] den Geber des Wagens dafür als Zeugen an, daß alles einem schweren Verhängnis zum Opfer fallen werde, wenn er nicht Abhilfe schaffe. Steil steigt er zur höchsten Zinne empor, von wo aus er die weiten Lande mit Wolken zu überziehen pflegt, von wo aus er Donner erregt und mit Schwung Blitze schleudert. Damals hatte er freilich keine Wolken, um die Erde zu überziehen, [310] keinen Regen, um ihn vom Himmel herabzusenden. Also donnert er; dann holt er weit aus – bis zum rechten Ohr – und wirft den Blitz auf den Wagenlenker, raubt ihm zugleich den Stand und das Leben und bezähmt mit grausamem Feuer das Feuer. Scheu werden die Rosse, springen in verschiedene Richtungen, [315] reißen den Hals aus dem Joch und hinterlassen zerfetzte Riemen. Hier liegt Zaumzeug, dort, von der Deichsel abgebrochen, die Achse, hier die Speichen geborstener Räder, und weit verstreut sind die Reste des zertrümmerten Wagens.

      Aber Phaethon, dessen Haar die verheerende Flamme rötet, [320] wird kopfüber hinabgewirbelt und stürzt in weitem Bogen durch die Luft, wie zuweilen ein Stern vom heiteren Himmel zwar nicht fällt, aber zu fallen scheint. Fern der Heimat, am anderen Ende der Welt, nimmt ihn der gewaltige Eridanus auf und wäscht sein dampfendes Gesicht. [325] Hesperische Naiaden übergeben den Leib, der noch von dem dreizackigen Blitz raucht, dem Grabhügel, und sie ritzen in den Stein einen Spruch: »Hier ruht Phaethon, der Lenker des väterlichen Wagens; zwar konnte er ihn nicht halten, doch fiel er als einer, der Großes gewagt.« Der bejammernswerte Vater hatte in schmerzvoller Trauer [330] sein Angesicht verhüllt, und wenn wir es glauben wollen, soll ein Tag ohne Sonne vergangen sein; die Feuersbrunst spendete Licht, und so war dieses Übel wenigstens zu etwas nütze.

      Clymene aber zerreißt, nachdem sie alles gesagt hat, was man in so schwerem Unglück sagen muß, in besinnungsloser Trauer ihr Kleid, [335] schlägt sich an die Brust und durchforscht die ganze Welt, zuerst auf der Suche nach den entseelten Gliedern, dann nach den Gebeinen. Sie fand sie schließlich an fremdem Ufer bestattet, sank an der Stätte zu Boden, wusch den Namen, den sie im Marmor las, mit ihren Tränen und wärmte ihn mit der bloßen Brust.

      [340] Nicht weniger trauern die Sonnentöchter und bringen dem Tod als nutzlose Gaben ihre Tränen dar. Mit der flachen Hand schlagen sie sich an die Brust, rufen Tag und Nacht nach Phaethon, der ihre unglücklichen Klagen nicht hören kann, und werfen sich am Grabe nieder. Viermal hatte Luna ihre Hörner zum Vollmond ergänzt: [345] Die Mädchen hatten nach ihrem Brauch – einen Brauch hatte nämlich die Gewöhnung entstehen lassen – ihre Klage ausgestoßen; als eine von ihnen, Phaethusa, die älteste der Schwestern, sich auf die Erde niederwerfen wollte, klagte sie, ihre Füße seien erstarrt. Zu ihr versuchte die strahlende Lampetie zu kommen und wurde von einer plötzlich gewachsenen Wurzel festgehalten. [350] Die dritte wollte sich mit den Händen die Haare raufen und riß Blätter ab. Diese empfindet Schmerz, weil ein Baumstamm ihre Beine umschließt, jene, weil ihre Arme zu langen Ästen werden; und während sie sich noch darüber verwundern, umfaßt Rinde ihre Weichen und legt sich Schritt für Schritt um den Leib, die Brust, die Schultern, die Hände. [355] Nur noch die Gesichter blickten hervor und der Mund, der nach der Mutter rief. Was soll die Mutter tun als hierhin und dorthin gehen, wohin sie ihr Gefühl treibt, und Küsse geben, solange sie noch darf? Das genügt ihr nicht; sie versucht, die Leiber aus den Stämmen zu reißen, und bricht mit den Händen die zarten Zweige ab; [360] doch da quellen Blutstropfen wie aus einer Wunde hervor. »Bitte, schone mich, Mutter«, ruft eine jede, sobald sie verletzt ist, »schone mich, bitte! Im Baum verwundest du meinen Leib. Leb wohl!«, und Rinde wuchs über die letzten Worte. Daraus fließen Tränen; [365] was von den neuentstandenen Zweigen herabtropft, wird an der Sonne hart: Bernstein, den der klare Strom aufnimmt und den Latinerfrauen als Schmuck schickt.

      Bei diesem Wunder war Cygnus dabei, der Sohn des Sthenelus, der mit dir, Phaethon, mütterlicherseits blutsverwandt war; doch noch enger war die Seelenverwandtschaft. Er hatte sein Reich verlassen – [370] herrschte er doch über die Völker und die großen Städte der Ligurer. Eben hatte er die grünen Ufer und den Strom des Eridanus mit Klagen erfüllt sowie den Wald, den die Schwestern vermehrt hatten, als seine Stimme plötzlich dünn wurde. Weißgrauer Flaum überdeckt das Haar, von der Brust aus streckt sich der Hals weit nach vorn, [375] Schwimmhäute verbinden die rot gewordenen Zehen, Federn verhüllen die Seite, und das Gesicht bekommt einen stumpfen Schnabel. Es entsteht ein neuer Vogel: der Schwan. Er vertraut sich dem Himmel und Iuppiter nicht an, als erinnere er sich seines ungerechten Blitzschlages. Sümpfe sucht er und weite Seen, und da er das Feuer verabscheut, [380] hat er die Flüsse, die den Flammen feindlich sind, zur Wohnstätte erkoren.

      Unterdessen ist Phaethons Vater vor Gram entstellt, läßt die Schönheit vermissen, die ihm eigen ist, sieht aus wie bei einer Sonnenfinsternis, haßt das Licht, sich selbst und den Tag. Ganz gibt er sich der Trauer hin, läßt zur Trauer den Zorn hinzutreten [385] und verweigert der Welt seinen Dienst. »Ruhelos genug«, so spricht er, »ist mein Leben seit Anbeginn der Zeit gewesen, und mich verdrießt die Arbeit, die ich ebenso endlos wie ruhmlos verrichtet habe. Soll doch ein anderer den Wagen lenken, der das Licht trägt! Gibt es aber keinen und erklären sich alle Götter außerstande, [390] dann soll der Herr doch selber den Lenker spielen, um doch einmal, wenigstens solange er meine Zügel erprobt, seine Blitze ruhen zu lassen, die Väter kinderlos machen. Hat er einmal die