„Hast du an das Geschenk für unsere Vermieter gedacht?“
„Mein Gott, ja!“
Erst jetzt lehnte er sich entspannt in seinen Sitz zurück und begann, in der Zeitung zu blättern.
*
Die Anreise
Ich schaute aus dem Fenster. Je länger wir fuhren, desto holländischer kam mir alles vor. Wir überquerten immer wieder Brücken, kamen an Windmühlen vorbei, fuhren an Kanälen entlang oder durch Städte, in denen es nur so von Radfahrern wimmelte. Die Zeit verging wie im Flug. Irgendwann fragte Meike: „Gehen wir eigentlich sofort an den Strand, wenn wir da sind?“
Papa stimmte zu. „Das ist eine gute Idee, am besten nehmen wir gleich die Badesachen mit!“
Papa und das Meer, das war wirklich eine ganz besondere Geschichte. Es grenzte schon an ein Wunder, wenn er im Laufe der Ferien wenigstens einmal schwimmen ging. Erst konnte er es kaum erwarten, aber dann traute er sich höchstens mit einer Fußspitze ins Wasser und behauptete, es sei viel zu kalt zum Schwimmen. Aber jetzt war er wieder total begeistert. „Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich darauf freue, wieder in die Nordsee zu springen!“, meinte er mit leuchtenden Augen.
„Ist ja gut, Martin!“, riefen wir im Chor und grinsten ihn an.
Für einen Augenblick schien er sich zu ärgern, aber dann zuckte er nur mit den Schultern. „Mein Gott, man hat’s nicht leicht, wenn man mit drei Frauen verreist.“
Danach wurde es still im Auto. Papa las seine Zeitung, Meike hörte Musik, Mama fuhr und schaute ab und zu in den Rückspiegel, als ob sie sich vergewissern wollte, dass wir noch da waren.
Ich hatte mir noch mal Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkrokan zum Lesen herausgesucht. Papa meinte, das Buch habe viel mit uns zu tun, denn die Familie verbringe ihre Ferien auch regelmäßig auf einer Insel. Die Melchersons fuhren gerade mit dem Schiff nach Saltkrokan. Ich dachte an unsere Fähre, mit der wir nach Ameland übersetzen würden. Lange konnte die Autofahrt bis zum Hafen in Holwerd nicht mehr dauern.
Und tatsächlich. Plötzlich rief Mama begeistert: „Achtung, wer gleich als erster das Meer entdeckt, bekommt von mir einen Euro!“
Das spielen wir immer kurz vor der Küste, denn das letzte Stück fuhr man parallel am Deich entlang. Man konnte die Nordsee zwar noch nicht sehen, aber sie schon riechen. Mein Herz begann zu klopfen, ich freute mich riesig und stellte mir vor, wie der raue Wind meine Haare zerzaust. Nach einer Linkskurve durchbrach die Straße plötzlich den Deich und lief schnurgerade auf den im Watt liegenden Hafen zu. Jetzt kam der Moment, den schnellsten Blick auf die Nordsee zu erwischen.
„Das Meer, ich sehe es, ich sehe es!“ Meike hatte sich hinten auf dem Rücksitz ganz lang gemacht, um die Erste sein zu können. „Ich bekomme den Euro!“
„Quatsch, ich war schneller!“, rief Papa. „Mindestens eine halbe Sekunde.“
Mama und ich erklärten Meike zur Gewinnerin.
Es war Flut. Die weite, silberne Wasseroberfläche glitzerte so hell in der Sonne, dass ich meine Augen zukneifen musste.
Mama öffnete ihr Seitenfenster: „Aaah, diese Luft, Kinder, riecht diese Frische, das ist reine Natur!“ Begeistert sah sie uns an.
Wir hatten es geschafft. Gleich würden wir unsere Freunde aus Berlin und Coesfeld treffen, mit denen wir die Ferien immer zusammen verbrachten.
Nach einem kurzen Stopp am Schalter der Fährgesellschaft, um unser Ticket zu zeigen, reihten wir uns in die wartende Autoschlange ein.
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Das Wiedersehen
Während unsere Eltern schon ins Restaurant gingen, hielten Meike und ich am Anleger nach der Fähre Ausschau. Bei klarem Wetter entdeckten wir sie manchmal schon am Horizont – noch klein wie eine Nussschale. Aber jetzt sahen wir nichts, deshalb folgten wir Mama und Papa ins Hafenrestaurant. Dort konnten wir warten und durch riesige Fensterscheiben aufs Meer schauen.
Als ich die schwere Glastür öffnete, sah ich auf den ersten Blick, dass sie unsere Freunde schon getroffen hatten. In der hinteren Ecke herrschte großer Trubel. Unsere Eltern begrüßten gerade die Münstermänner. Marlies, Rainer und ihre Kinder Paula, Lara und Oliver wohnten in Coesfeld, eine kleine Stadt in der Nähe der holländischen Grenze. Paula war 13 und meine beste Freundin.
„Hi, Hannah!“ Sofort steuerte sie auf mich zu. „Ich muss dir unbedingt was erzählen!“
„Lass mich raten“, antwortete ich, „es geht um deine Clique?“
„Genau, Schlaumeierin, hab’ ich dir davon schon geschrieben? Ach ja. ... Aber jetzt pass auf! Das Neueste ist, eine aus meiner Clique, Tine, hat ein Piercing am Bauchnabel, das sieht sooo geil aus!“
„Echt jetzt? Lässt du dir auch eins machen?“
Paula verdrehte die Augen und deutete auf ihren Vater. „Er will nicht. Als ich gefragt habe, ist er fast ausgeflippt.“
„Das tut doch auch weh, ich hätte viel zu viel Angst.“
„Tine fand’s gar nicht so schlimm, nach zwei Tagen hat sie nichts mehr davon gemerkt“, entgegnete Paula.
Paula und ich sahen uns eigentlich nur in den Ferien, aber wir schrieben uns viel übers Handy. Deshalb wusste ich auch einiges über ihre Clique. Tine und die anderen Mädchen waren fast alle ein oder zwei Jahre älter. Vielleicht zog sich Paula auch deshalb ganz anders an als ich. Sie trug zum Beispiel fast bei jedem Wetter bauchnabelfreie T-Shirts.
„Und was ist mit mir?“ Am Tisch saß Paulas Schwester Lara und strahlte mich an. Sie war 12, so wie ich. So stark wie sie war kein anderes Mädchen, das ich kannte. Wie immer war sie braun gebrannt.
„Du weißt doch, dass du mir egal bist!“ Ich ging lachend auf sie zu und gab ihr einen Kuss auf die Backe. „Wie viele Hanteln hast du wieder gestemmt?“
„Keine Ahnung“, strahlte sie. „Aber letzte Woche hab’ ich die 50-Meter-Strecke gewonnen.“ Sie ballte triumphierend ihre Faust. Lara war Wettkampfschwimmerin.
Oliver schien unterwegs zu sein. Wahrscheinlich unternahm er mal wieder eine seiner berühmten Entdeckungstouren. Olli, wie Paula und Lara ihn nannten, sprühte vor Ideen. Er war extrem neugierig mit seinen acht Jahren. Mama hielt ihn für einen ziemlichen Chaoten, aber ich fand, er hatte eigentlich super Einfälle, nur übertrieb er’s manchmal.
„Wat leuk, jij bent ook weer hier!“, rief Rainer in seinem komischen Holländisch und klopfte mir mit seiner riesengroßen Pranke auf die Schultern. Er sah mit seinem dicken Bauch und den beharrten Armen aus wie ein großer Bär. „Bist du denn jetzt endlich getauft?“, wollte er wissen.
„Bis jetzt noch nicht“, antwortete ich etwas genervt, denn er stellte diese Frage oft. Rainer wollte Papa unbedingt davon überzeugen, uns religiös zu erziehen.
Auch Marlies begrüßte mich. „Wie geht es dir, Hannah?“
„Super, ich freu’ mich total auf die Ferien“, antwortete ich lachend.
Erst jetzt sah ich die Franzens. Pit und Hanjo beschäftigten sich gerade mit einer leeren Cola-Dose, die sie sich gegenseitig zuwarfen. „Ihr seid mal wieder die Letzten!“, nörgelte der dünne Pit. „Ich sitze mir hier schon seit einer Stunde den Hintern platt. Geht ihr gleich mit nach draußen?“ Er war