Als Mutter verstehst du leichter diese Seite des Gebets. Dein kleines, zartes Kind kann nicht eine einzige Bitte an dich in Worte kleiden; und doch bittet es, so gut es kann, indem es schreit. Aber du verstehst die Bitte in seinem Schreien. Ja, das Kleine braucht nicht einmal zu schreien. Du brauchst es nur zu sehen in all seiner hilflosen Abhängigkeit von dir, so erreicht seine Bitte dein Mutterherz, eine Bitte, die eindringlicher ist als der lauteste Schrei.
Er, der Vater ist für alle, die Mutter genannt werden, und alle, die Kinder heißen im Himmel und auf Erden, nimmt in derselben Weise teil an uns. Unsere Hilflosigkeit ist eine einzige Bitte an sein Vaterherz. Und er ist unaufhörlich bereit, diese Bitte zu hören und unseren Drang zu stillen. Tag und Nacht ist er bereit dazu, obgleich wir meist nicht darauf achten, geschweige denn ihm dafür danken.
Als Mutter verstehst du ihn hierin besser als wir anderen. Du versorgst das Kleine Tag und Nacht, obgleich es nicht versteht, was du für es tust, opferst und leidest. Es dankt dir auch nicht und ist oft unwillig und sogar widerspenstig gegen dich. Aber du lässt dich nicht beirren. Du hörst unablässig die Bitten, die seine Hilflosigkeit an dein Mutterherz richtet.
Genauso ist Gott.
Nur mit dem Unterschied, dass sein Wirken vollkommen ist, während menschliche Liebe unvollkommen bleibt. Wie eine richtige Mutter ihr Leben der Pflege ihres Kindes weiht, so hat der ewige Gott in seiner unfasslichen Gnade sein ewiges Leben der Pflege seiner sündigen Menschenkinder geweiht.
So ist Gott mit allen.
Auch mit dem unbekehrten Menschen. – Du denkst gewiss, Gott liebt dich nicht. Ab und zu glaubst du, dass er sich nicht um dich kümmert. Manchmal scheint es dir sogar, als verfolge dich Gott mit seiner Rache und Vergeltung, als zerstöre er alle deine Pläne und vernichte dein Glück.
Nein, mein Freund, so ist Gott nicht. Du kennst ihn nicht und gehst deshalb mit einem Zerrbild von ihm herum.
Höre, wie Gott ist: »Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Matth. 5,45). Christus benutzte seine letzte Kraft und seine letzten Augenblicke, um für seine Feinde zu beten: »Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Luk. 23,34). Und als Jesus das letzte Mal nach Jerusalem kam und kein Mittel mehr besaß, um diese gottlose und widerspenstige Stadt zu erlösen, stand er auf dem Ölberg und weinte über sie, während sein prophetischer Blick das schreckliche Gericht sah, das diese Stadt treffen würde.
So ist Gott. Er liebte seine Feinde. Wenn er die Not der Gottlosen sieht, ihre leeren Freuden und wirklichen Sorgen, ihre Enttäuschungen, Leiden und Ängste, und wie sie unerbittlich im Strom der Zeit der ewigen Pein der Hölle entgegengehen, dann schreien die Not und Hilflosigkeit der Gottlosen zu Gottes Herzen. Er hört diesen Schrei und beugt sich zu seinem hilflosen Menschenkind nieder, um ihm zu helfen. Und der Unbekehrte nimmt die Hilfe entgegen, soweit sie zeitliche Dinge betrifft. Aber sobald Gott ihm Hilfe für die Seele anbietet, wendet sich der Hilflose erschrocken ab und flieht vor seinem Gott: Er will nicht bekehrt werden!
Das Gebet ist für die Hilflosen. Für den hilflosen Sünder, der nicht länger vor seinem Gott flieht, der in dem himmlischen Licht stehen bleibt. Er fängt an, seine früheren Sünden zu erkennen, die Unreinheit seines Herzens, seine Reuelosigkeit, seine Kälte und Gleichgültigkeit, seinen Unwillen gegen Gott, gegen die Bibel und das Gebet, seinen schwachen Willen gegenüber der dauernden Lust zur Sünde.
Was soll er nun machen?
Wie alle anderen schreit er in dieser Not zu Gott. Mehr oder weniger heftig, mehr oder weniger oft, mehr oder weniger regelmäßig. Aber er bekommt keine Antwort von Gott. Er fühlt sich verlassen wie ein Mann, der in einem kleinen Boot draußen auf dem offenen schäumenden Meer treibt. Er ruft aus aller Kraft. Er kann es nicht lassen, obgleich nirgends ein Mensch zu sehen ist, der ihn hören könnte.
Und so sagt sich der zerknirschte Sünder: »Wenn mir Gott nicht antwortet, liegt das natürlich daran, dass ich nicht richtig bete. Kann denn mein Rufen ein Gebet genannt werden? Sind das nicht nur Worte, leere Worte? Reichen sie höher als bis zum Dach? Wenn nicht mehr heiliger Ernst und entschiedener Wille in meinem Gebet sind, dann ist das kein Gebet, das Gott erhören kann.«
Mein hilfloser Freund, deine Hilflosigkeit ist ein starkes Gebet, das zu Gottes Vaterherzen aufsteigt. Er hat es vom ersten Augenblick an, als du ehrlich deine Not vor ihm ausbreitetest, gehört. Tag und Nacht neigt er sein Ohr zur Erde, um zu hören, ob sich irgendeins seiner hilflosen Menschenkinder in seiner Not an ihn wendet.
Höre weiter: Es ist nicht dein Gebet, das Gott in Bewegung setzt, dich zu erlösen. Nein, dein Gebet ist eine Frucht davon, dass Jesus an dein Herz anklopfte und dir sagte, dass er in deine Not zu dir hinein will. Du meinst, dass dir alles verschlossen sei, weil du nicht beten kannst. Mein Freund, gerade diese Hilflosigkeit ist das Entscheidende in deinem Gebet.
Beten heißt, sich für Jesus aufschließen und ihn in unsere Not einlassen. Meine Hilflosigkeit ist es, die Jesus die Tür völlig öffnet und ihm Zugang verschafft zu all meiner Not.
Aber warum antwortet er mir nicht?, fragst du in deiner Ratlosigkeit.
Er hat auf dein Beten geantwortet. Er ist zu dir hineingegangen durch die Tür, die du ihm durch deine Hilflosigkeit geöffnet hast. Er wohnt schon in deinem Herzen und tut dort seinen guten Dienst. Du hast seine Antwort noch nicht richtig verstanden. Wir beten und bekommen Antwort, aber verstehen die Antwort nicht gleich, oft verstehen wir sie erst lange hinterher.
Du hast dir eine bestimmte Antwort von Gott gedacht: Frieden, Gewissheit, Freude in der Seele. Und wenn du das nicht bekommst, glaubst du, dass Gott dir nicht geantwortet habe. Jesus hat uns viel zu sagen und viel in uns zu tun, was wir nicht gleich verstehen. Wir sind ungeduldig und möchten, dass er etwas anderes tut oder sagt, genau wie Petrus bei der Fußwaschung (Joh. 13,1-10). Aber Jesus läßt sich nicht durch unsere Unvernunft beirren. Er fährt ruhig fort und sagt: »Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht, aber du wirst es hernach erfahren« (Vers 7).
Lass dich darum nicht von deiner Hilflosigkeit ängstigen. Vor allen Dingen lass sie dich nicht am Beten hindern. Denn sie ist das eigentliche Geheimnis und die treibende Kraft des Gebets. Darum sollst du lieber versuchen, Gott für die Gabe der Hilflosigkeit zu danken. Sie ist eine der größten Gaben, die Gott uns schenken kann. Denn nur allein durch Hilflosigkeit schließen wir uns auf, so dass Jesus in unsere Not hineinkommen kann mit aller Gnade und allen Gaben.
Vom Himmel her sehen viele Dinge anders aus als von der Erde. Auch unsere Gebete nehmen sich gewiss von dort oben anders aus.
Da sind z. B. die Gebetstreffen, Gebetsstunden. Einer betet nach dem anderen. Zuerst solche, die gewohnt sind, laut und in Gegenwart anderer zu beten. Sie beten gut und erbaulich, und wenn sie Amen sagen, sind sich alle stillschweigend darüber einig, dass es ein gutes Gebet war. Auf demselben Gebetstreffen ist ein anderer, der auch gern seine Stimme in der Versammlung von Betern erheben möchte. Er weiß, er braucht das Gebet vielleicht mehr als irgendein anderer. Indessen ist er ungewandt, und es will ihm nicht glücken. Seine Gedanken sind unzusammenhängend, und die Worte überstürzen sich. Zuletzt ist er so verwirrt, dass er vergisst, Amen zu sagen. Und hinterher ist er so verzweifelt über sein Gebet und über sich selbst, dass er kaum jemandem in die Augen zu sehen wagt, nachdem das Treffen beendet ist.
Ich glaube aber, dass im Himmel ein neuer Lobgesang angestimmt wurde, aus Freude darüber, einen Menschen zu hören, der wirklich zu Gott betete, weil er in seiner Hilflosigkeit keinen Rat wusste. Ja, solche Gebete machen Eindruck im Himmel.
Hilflosigkeit beim Beten kann sehr verschieden erlebt werden. Besonders in unserem Gefühlsleben kann sie ganz verschiedene Wirkungen hervorrufen. In der Regel ist es wohl so, dass die Hilflosigkeit in der ersten Zeit unseres Christenlebens am stärksten in unser Gefühlsleben eingreift. In dieser Zeit »beugt« der Herr