Else Lasker-Schüler
Die Gedichte
Auswahl
Herausgegeben und kommentiert von Gabriele Sander
Reclam
Zu Else Lasker-Schülers Gedichten gibt es bei Reclam Interpretationen in: Gedichte von Else Lasker-Schüler in der Reihe »Interpretationen« (Nr. 17535)
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961710-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019168-2
Inhalt
[7]VorahnungVorahnung [1.]
Verhöhnt mich auch lachend der WirbelwindVerhöhnt mich auch lachend der Wirbelwind,
– Mein Kind, das ist ein Königskind,
Mit Locken, wie Sonnenscheinen.
Ich sitze sinnend unter dem Dach,
Bin in den Nächten fieberwach 5
Und nähe Hemdchen aus Leinen.
– Meiner Mutter Wiegenfest ist heut’,
Gestorben sind Vater und Mutter beid’
Und sahen nicht mehr den Kleinen.
– Meine Mutter träumte einmal schwer. – 10
– Sie sah mich nicht an ohne Seufzer mehr
Und ohne heimliches Weinen. –
Verwelkte MyrtenVerwelkte Myrten [2.]
Bist wie der graue, sonnenlose TagBist wie der graue, sonnenlose Tag,
Der sündig sich auf junge Rosen legt.
– Mir war, wie ich an Deiner Seite lag,
Als ob mein Herze sich nicht mehr bewegt.
Ich küsste Deine bleichen Wangen rot, 5
Entwand ein Lächeln Deinem starren Blick.
– Du tratest meine junge Seele tot
Und kehrtest in Dein kaltes Sein zurück.
[8]TriebTrieb [3.]
Es treiben mich brennende LebensgewaltenEs treiben mich brennende Lebensgewalten,
Gefühle, die ich nicht zügeln kann.
Und Gedanken, die sich zur Form gestalten,
Sie greifen mich wie Wölfe an.
Ich irre durch duftende Sonnentage … 5
Und die Nacht erschüttert von meinem Schrei.
Meine Lust stöhnt wie eine Marterklage
Und reißt sich von ihrer Fessel frei.
Und schwebt auf zitternden, schimmernden Schwingen
Dem sonn’gen Tal in den jungen Schoß. 10
Und lässt sich von jedem Mai’nhauch bezwingen
Und giebt der Natur sich willenlos.
JugendJugend [4.]
Ich hört’ dich hämmern diese NachtIch hörtʼ dich hämmern diese Nacht
An einem Sarg im tiefen Erdenschacht.
Was willst du von mir, bleicher Sensemann,
Mein Herz gehört dem ew’gen Leben an
Mit all den Blüten und der Maienlust. 5
Ich bin so jung wie frühe Morgenglut.
Für deinen Becher ist zu heiß mein Blut.
Scher’ dich des Weges, alter Nimmersatt!
Was soll ich in der kalten Totenstadt
Ich, mit dem Jubel in der Brust! 10
[9]Die schwarze BhowanéhDie schwarze Bhowanéh [5.]
(Die Göttin der Nacht)
(Zigeunerlied)
Meine Lippen glühnMeine Lippen glühn
Und meine Arme breiten sich aus wie Flammen!
Du musst mit mir nach Granada ziehn
In die Sonne, aus der meine Gluten stammen ....
Meine Ader schmerzt 5
Von der Wildheit meiner Säfte,
Von dem Toben meiner Kräfte.
Granatäpfel prangen
Wie die heißen Lippen der Nacht.
Rot, wie die Liebe der Nacht! 10
Wie der Brand meiner Wangen.
Auf dem dunklen Schein
Meiner Haut schillern Muscheln auf Schnüre gezogen.
Und Perlen, von sonnenfarb’gem Bernstein
Durchglühn meine Zöpfe wie Feuerwogen. 15
Meine Seele bebt,
Wie eine Erde bebt und sich auftut
Dürstend nach Luft! nach säuselnder Flut ....
Heiße Winde stöhnen
Wie der Odem der Sehnsucht .... 20
Verheerend, wie die Qual der Sehnsucht ....
Und über die Felsen Granadas dröhnen
Die Lockrufe der schwarzen Bhowanéh!
[10]ChaosChaos [6.]
Die Sterne fliehen schreckensbleichDie Sterne fliehen schreckensbleich
Vom Himmel meiner Einsamkeit,
Und das schwarze Auge der Mitternacht
Starrt näher und näher.
Ich finde