Das Geschlecht prägt unsere Fantasien. Gute kleine Jungs sollen davon träumen, die Welt zu verändern, gute kleine Mädchen sollen davon träumen, sich zu verändern. Aus dem Märchen erfahren wir, dass Schönheit Schicksal ist, und wenn wir größer werden, bringt man uns bei, dass dieses Schicksal in unserer Hand liegt. Wenn wir klug konsumieren, damit wir schön und schick sind, können wir uns komplett verändern.
Wenn Schönheit zur Pflicht wird, ist sie kein Spaß, kein Spiel mehr. Wisst ihr noch, wie lustig das war, als wir uns verkleidet, Geschlechterrollen ausprobiert, stümperhafte Zöpfe geflochten und bei dem Versuch, uns zu schminken, den Lippenstift unserer Mutter halb aufgegessen haben? Und wisst ihr noch, wie Schluss war mit dem Spaß? Wie jedes Spiel macht auch das Spiel der Frauen keinen Spaß mehr, wenn man spielt, um zu gewinnen, zumal dann, wenn man gewinnen muss: gewinnen oder sich lächerlich machen, gewinnen oder unsichtbar werden, abgeblitzt und abgewimmelt. Als ich in der Klinik war, galten für junge Frauen langes Haar, hübsche Kleider, Make-up und ein Faible fürs Einkaufen als Kennzeichen für psychische Gesundheit. Die Stationsärzte, Psychiater mittleren Alters mit gemütlicher Wampe, waren sich in diesem Punkt völlig einig: Um gesund zu werden, mussten wir »unsere Weiblichkeit annehmen«. Jüngsten Theorien zufolge wollen die erkrankten jungen Frauen mittels ihrer Essstörung den Belastungen der modernen Weiblichkeit entfliehen.25 Anorexia nervosa, so die Logik, unterbricht den traumatischen Vorgang des Frauwerdens, denn wenn ein Mädchen aufhört zu essen, wenn es von 600 auf 400 auf 200 Kalorien pro Tag reduziert, setzt die Periode aus, Busen, Hüften und wabbeliger Speck verschwinden, und die Kranke kehrt zu einem künstlichen vorpubertären Zustand zurück, mitsamt den Stimmungsschwankungen, den musikalischen Spleens und dem überwältigenden Impuls, im Laden um die Ecke Haargummis zu klauen. Junge Frauen und eine zunehmende Zahl junger Männer verhielten sich so, heißt es, weil sie die Geschlechterrolle, in die sie gepresst werden, fürchten und hassen. Dass sie für ihre Angst und Wut verdammt gute Gründe haben könnten, darauf ist die psychiatrische Zunft noch nicht gekommen.
Spielboykott
Auf der Station für die Umerziehung böswilliger Nichtesserinnen war Sex-Talk nicht erlaubt. Fluchen war nicht erlaubt. Als zwei andere Mädchen und ich in der obligatorischen Kunsttherapie, in der wir unsere Gefühle ausdrücken sollten, riesige behaarte Schwänze, Mösen und vulgäre Sexszenen aufs Papier brachten, stellte man uns zur Rede, warum wir so stur seien und nicht nach Plan vorankämen. Wenn wir uns morgens zum Wiegen anstellten, flüsterten wir uns Möse und Fotze zu, immer lauter, um auszutesten, wann uns die Krankenschwestern den Mund verbieten würden. Wir hatten uns zu benehmen. Wir hatten brave Mädchen zu sein, wenn wir da je wieder rauskommen wollten.
Um diese Klinik durch den Haupteingang zu verlassen, und zwar nicht horizontal mit den Füßen voran, mussten wir uns an die Regeln halten. Wir mussten lächeln und aufessen. Wir mussten brave Mädchen sein. Ein braves Mädchen ist eins, das keine Hosen trägt, sich die Haare wachsen lässt, so bald wie möglich einen Freund findet und lernt, sich das Haar zu stylen und einen sauberen Kajalstrich zu ziehen. Ein braves Mädchen kauft verschiedene Kleider für verschiedene Anlässe, macht sich so zurecht, dass es die begehrlichen Blicke der Männer auf sich zieht, und lernt Manieren: den Kopf neigen und »Bitte« und »Danke« sagen und »Nein, für mich keinen Kuchen, ich habe diese Woche schon genug gesündigt«.
Das war die erwünschte Weiblichkeit, die heterosexuelle Weiblichkeit, Weiblichkeit als Kontrolle, als großes Entqueeren. Es war das ultimative Umstyling, und wir halfen uns gegenseitig, verkleideten einander wie überkandidelte Barbiepuppen, sogar ich – ich ganz besonders, denn ich hatte, als ich in die Klinik kam, kurze Haare und Hosen getragen und vom Mädchenküssen gefaselt, und hatte daher am meisten darüber zu lernen, was eine Frau eigentlich ist. Wir spielten das Spiel gemeinsam, vor allem, wenn eine von uns die Station verlassen durfte. Dann kleideten wir sie an, schminkten sie, polierten ihr die Nägel, machten ihr das Haar und schickten eine gesunde normale Frau hinaus in die Welt, nicht das verletzte empfindliche Wesen, das Monate zuvor zu Fuß oder im Rollstuhl mit nacktem Herzen auf die Station gekommen war.
Mach dich schön. Mach dich neu. Spiel das Frauenspiel, und spiel es besser als deine Freundinnen. Du bestehst nur aus Oberfläche, da machst du die Oberfläche am besten interessant, modern und frisch, denn darunter ist ja nur eine Frau mit ihren läppischen Problemen und ihren faden Gefühlen. Sogenannte Makeover-Shows, die sich der Selbstvervollkommnung verschrieben haben, von den Top-Model- Formaten bis hin zu Schönheitsshows wie The Swan – Endlich schön! und Abnehmshows wie The Biggest Loser, zählen zu den erfolgreichsten Produktionen der letzten beiden Jahrzehnte. Das ist kein Zufall.
Für moderne Frauen ist in diesen angstbesetzten Zeiten das Umstylen ein Ritual der Gesundheit, der Hingabe und der sozialen Konformität. Es ist der zentrale Umgestaltungsmythos der modernen Weiblichkeit und ein lukrativer dazu. Das Frauenspiel, das Spiel um Trickserei und Selbstvernichtung, ist ein ernsthaftes Geschäft. Einer jüngeren Umfrage des Teleshopping-Senders QVC zufolge gibt die Durchschnittsbritin jährlich über 2600 Euro oder 11 Prozent des Durchschnittseinkommens einer in Vollzeit arbeitenden Frau für Pflege und Verschönerung ihres Äußeren aus. Männer dagegen verwenden nur 4 Prozent ihres Einkommens auf ihr Äußeres, und zwar überwiegend auf die Rasur und das Fitnessstudio.26 Hochglanzfrauenzeitschriften leiten zur Selbsttransformation an: So modelt ihr euren Körper für den Sommer um, so die Garderobe für den Winter, so geht ein Smokey-Eye-Make-up, so eins, das glitzert, und so ein natürliches – für das ihr deshalb nicht weniger Farbe braucht. Schönheitskliniken kleistern öffentliche Verkehrsmittel mit dem Versprechen zu, dass sie nicht nur den Körper optimieren, sondern auch die Psyche, durch »Selbstvertrauen« zum Beispiel. In Modemagazinen wird uns geraten, Geld, das wir nicht haben, in Kostümröcke oder Handtaschen zu »investieren«. Wir sollen uns nicht nur schön kleiden und stylen, um uns zu gefallen, nein, wir sollen dabei immer die finanzielle Zukunft im Blick haben. Der Rock ist in Wahrheit eine Investition in ein Eine-Frau-Unternehmen, dessen Produkt wir selber sind, nur schicker. Macht, Gesundheit und Erfolg sind für die moderne, emanzipierte Frau genau das: unendliche Erschöpfung und ein mit teuren Kostümen vollgestopfter Kleiderschrank.
Weiblichkeit, Fügsamkeit und Hübschsein – das lebenslange Bemühen, auszusehen wie ein untergewichtiges kaukasisches Mädchen Anfang zwanzig mit ebenmäßigen Gesichtszügen – sind die Eintrittskarten für eine ganze Reihe von Jobs, in denen nur wenige richtig groß werden, die meisten aber scheitern.
Doch sie haben uns angelogen. Die Zeitschriften haben gelogen, die Filme haben gelogen, unsere Mütter haben gelogen. Wenn ein Mädchen schön ist, wird nicht alles besser. In Wahrheit wird so gut wie nichts besser, sondern wir bekommen nur andere Probleme, wie jede Frau bestätigen kann, die wie ich nach der Schule vorübergehend hübsch war. Kleine Mädchen lernen, dass Schönheit der einzige sichere Weg zu Liebe, Glück und Freiheit ist, und wenn sie schön zur Welt gekommen sind, macht es auch nichts, wenn sie arm zur Welt gekommen sind. Der heutige Schönheitsmythos unterscheidet sich kaum von dem jahrhundertealten Märchen vom schönen Mädchen, das eines Tages den Prinzen heiratet, nur dass der Prinz heute nicht mehr die einzige Eintrittskarte in die angeblich erstrebenswerte Welt ist, sondern zu dem Paket aus Ruhm, Geld und Bewunderung als mögliche Zugabe dreingegeben wird. Auf die endlose Liste der reichsten, mächtigsten und beliebtesten Frauen der Welt haben es die meisten durch Schönheit, durch die Eheschließung mit einem mächtigen Mann oder durch beides geschafft. Hillary Rodham Clinton mag US-Außenministerin gewesen sein, aber sie wird immer noch danach beurteilt, wie fickbar sie ist und ob sie im Hosenanzug eine sexy Figur macht. Die einzige Ausnahme bildet die englische Queen, in deren Fall es völlig egal ist, ob sie Botox gespritzt hat oder nicht, weil ihr grimmiges Konterfei Briefmarken ziert und ihr die Hälfte