Man gelangt an einen Punkt, an dem man entscheiden muss, was man für das Überleben opfern will. Es ist jetzt zehn Jahre her, und mittlerweile ist so viel passiert, dass ich nicht mehr weiß, wann genau ich beschlossen habe, es mit dem Leben zu versuchen, nur so als Experiment, um zu sehen, ob ich es schaffe. Vielleicht war es nach der langen Nacht, in der ich geheult hatte, dass ich nichts wollte; als ich unter dem Bett hervorkrabbelte, gegen das grelle Licht des Flurs blinzelnd in die kleine Stationsküche schlurfte und zum ersten Mal ohne Widerstand einen Toast aß. Ich erinnere mich nur an den knusprigen gebutterten Toast und die Angst, dass ich, wenn ich die Niederlage meines Hungers zuließ, nie aufhören würde zu essen, dass ich essen und essen würde, bis ich die Welt verschlungen hätte. Der Hunger eines jungen Mädchens ist etwas Fürchterliches.
Vielleicht war es auch Monate später, als ich das Krankenhaus verließ, im neuen Kleid und mit Lippenstift, den ich aufgetragen hatte, um die Stationsschwester davon zu überzeugen, dass ich endlich ein gesundes Mädchen war, das ein gesundes Leben führen wollte. Ich hatte mir den Gesichtsausdruck aufgemalt, den wir Frauen einzusetzen lernen, wenn wir der Welt vorgaukeln wollen, dass wir glücklich sind. Durch das Fenster des Taxis, das mich weiß der Teufel wohin brachte, nur nicht nach Hause, winkte ich meinen Freundinnen zu. Ich wusste, dass ich nie wieder nach Hause zurückkehren würde. Ich wollte das Krankenhaus verlassen und mein Studium fortsetzen, ich wollte die Welt bereisen, mich in schrillen Bars betrinken, jede Menge Jungs vögeln und jede Menge Mädchen küssen, ich wollte in Berlin und New York leben und bei Nacht nur mit Rucksack, Pass und Laptop über den Ozean fliegen. Ich wollte die Nacht barfuß durchtanzen und viele Bücher lesen, und eines Tages wollte ich auch Bücher schreiben.
Ein braves Mädchen, ein perfektes Mädchen zu sein, kann uns schnell umbringen oder auch langsam umbringen und alles Wertvolle in uns, die besten Träume unseres Lebens trist und gleichförmig machen. Mit siebzehn beschloss ich, es mit einem anderen Leben zu probieren, und das war beängstigend, es war zu viel, und das ist es immer noch, aber es war auch nicht schlimmer, als mit einem aufgemalten Lächeln zu Hause zu bleiben. Ich sehe jeden Tag Frauen, die diese Entscheidung treffen, Teenager, Frauen mit zwanzig, sechzig und siebzig, und in dieser schönen neuen Welt, in der Empowerment, Selbstermächtigung, bei Frauen gleichgesetzt wird mit teuren Schuhen und der Frage, ob sie für den Chef die Beine breit machen, in einer solchen Welt ist diese Entscheidung die einzige, die wirklich zählt. Wer sie trifft, wird eine egoistische Schlampe geschimpft, Freak, Nutte, Fotze, Hure, einigen gelten wir auch als rebellisch, entartet, renitent, manchmal sind wir polizeibekannt. Wir sind die, die zu laut lachen und zu viel reden und zu viel wollen und für sich arbeiten und eine neue Welt sehen, die knapp außer Reichweite ist, die am Rand der Sprache darum ringt, ausgesprochen zu werden. Und manchmal, zu später Nachtstunde, nennen wir uns Feministinnen.
2
Verlorene Jungs
»Patriarchalische Männlichkeit entfremdet Männer von ihrem Selbstsein.«
bell hooks, All About Love
Einige meiner besten Freunde sind weiß, männlich und hetero. Das ist nicht ihre Schuld. Sie haben nicht um dieses besondere Privileg gebeten, denn so läuft das nicht mit Privilegien, und jetzt wissen sie nicht, was sie damit anfangen sollen, und tun eben so, als wäre es nicht da. Aber um die Prinzipien von Gender, Macht und Begehren zu begreifen, müssen wir über Männer reden.
Wo ist die Macht, die man den jungen Männern von heute versprochen hat? In den fünf Jahren der Finanzkatastrophe und der Jugendarbeitslosigkeit habe ich zahllose junge Männer, die mir zum Teil sehr nahestanden, still und leise untergehen sehen. Die Rezession war auch für junge Frauen kein Disneyland, aber wir haben uns in mancherlei Hinsicht als emotional robuster erwiesen. Mädchen gehen oft schon von ihrer Erziehung her nicht davon aus, dass eine würdevolle Arbeit oder finanzielle Sicherheit identitätsstiftende Bestandteile ihrer Zukunft sind, und den meisten wurde beigebracht, sich im Beruf und anderswo auf Ausbeutung einzustellen. Das ist genau die Haltung, die Arbeitgeber heute suchen.
Ziel des Feminismus ist ja nicht nur, dass sich Frauen von Männern emanzipieren, sondern dass sich alle Menschen aus der Zwangsjacke geschlechtsspezifischer Unterdrückung befreien. Männer und Jungen beginnen erst jetzt kollektiv zu begreifen, wie furchtbar vermurkst Männlichkeit heute ist – und sie fragen, wie sie das ändern können.
Männlichkeit beschäftigt die Politik, und Männer beschäftigen den Feminismus. Das gilt für ihre Gewalt und auch für ihre Angst, eine kollektive, artikulierte Angst, dass sie in dieser Gesellschaft, die sich gegen sie verschworen zu haben scheint, auch noch die letzten Fetzen ihrer Privilegien einbüßen, die bislang ihr kollabierendes Selbstwertgefühl gestützt haben. Wie sollen sich Männer und Jungen verhalten, wenn männliche Privilegien nicht automatisch mit Macht verbunden sind?
Rock and Roll kann uns heutzutage auch nicht mehr retten. Das wird mir klar, als ich im Jahr 2009 eines Tages vom Einkaufen nach Hause komme und im Flur fast in die Eingeweide einer blauen Gitarre trete, ein wilder Wirrwarr aus Saiten und zersplittertem Holz. Die blaue Gitarre ist völlig zerstört, nicht mehr zu reparieren, Hals und Wirbel gebrochen. Die Luft riecht nach Gras und Traurigkeit.
In der Küche sitzt mein bester Freund; er blutet im Gesicht.
Ich stelle die Einkaufstüten ab und setze Teewasser auf, weil man das in so einer Situation eben macht. Mein bester Freund sitzt reglos auf dem einzigen Küchenstuhl, der noch alle vier Beine hat, und betupft sich das Gesicht mit nassem Klopapier, und der Tee ist heiß und süß und gut gegen den Schock. Wieder mal ein schlimmer Tag im Jobcenter.
»Er hat sich die Gitarre am eigenen Schädel zerschlagen«, erzählt mir unsere Mitbewohnerin, als er ins Bad geht. »Er ist von dem Gespräch nach Hause gekommen, und da hat er sich die Gitarre auf den Kopf gehauen und geschrien, dass er zu nichts taugt.«
Wir sind seit Jahren befreundet, seit wir uns in der College-Mensa kennengelernt haben, vor dem großen Crash, vor dem ganzen Mist, damals, als wir neunzehn waren und die Welt noch mit Kunst retten wollten. Schräge Leseratten aus der bürgerlichen Vorstadt, die die Nächte durchmachen und schreiben und sich Ärger einhandeln wollten. Wir schrappten durch unsere Prüfungen und schlürften unsere Tage wie billigen Wein, berauschend in ihrer schuldbewussten Vorhersagbarkeit. Vier wunderbare Sommer.
Und dann war das College vorüber, und die Wirtschaftskrise schlug zu, und die Musik wurde düsterer und wütender und brachte nicht mehr genug Geld für die Miete ein. Und das einzige Vorstellungsgespräch, das einem Geisteswissenschaftler, dessen Familie nicht das Geld für ein Praktikum aufbringen konnte, angeboten wurde, war das für einen Sachbearbeiterposten im Jobcenter, und die Zukunft öffnete sich vor ihm wie ein großer schwarzer Rachen.
Zu viele Nächte in der Notaufnahme. Nicht genug Geld für den Pub. Es wird klar, dass Liebe und harte Arbeit nicht genug sind, und Rock and Roll kann dich auch nicht retten. Das war vielleicht einmal. Diese Zeiten sind wie Punk und Sozialhilfe verschwunden.
Wir füllen Formulare aus und betteln auf dem Amt um Geld, um uns Essen zu kaufen, Geld, das erst nach einem Monat kommt, das bedeutet einen Monat lang trocken Brot, und wir schreiben wütende politische Songtexte und laden sie auf die Band-Website hoch, aber es nützt nichts. Frei nach Woody Guthrie: This Machine Does Not Kill Fascists. Wir probieren es aus, indem wir mit der Band die ganze Nacht laut Nick-Cave-Songs spielen, um den Mann von der British National Party zu ärgern, der ein paar Häuser weiter wohnt: Er erfreut sich offenbar auch weiter unverschämter Gesundheit.
Und dann, eines Tages, hörte die