Eines lernen Frauen und Mädchen von klein auf: Egal, was sie mit ihren siebzig Jahren auf diesem Planeten anstellen, wie mutig, klug und gebildet sie sind, egal, wie viele Millionen Euro sie verdienen, wie viele Menschenleben sie retten – das alles zählt nicht, wenn sie nicht schön sind. Ja, wir müssen schön sein, wenn wir geliebt werden wollen, wenn wir mächtig und erfolgreich sein wollen. Die wenigen Frauen, die nicht mit den Maßen einer halbwüchsigen sibirischen Turnerin in die Öffentlichkeit treten, seien sie Akademikerinnen oder Außenministerin, werden in Zeitungen und Zeitschriften, im Fernsehen und online wegen ihres Äußeren gnadenlos zusammengestaucht und lächerlich gemacht, werden ausschließlich danach beurteilt, wie attraktiv sie auf Männer wirken. Wir dürfen nie vergessen: Wir müssen eine heiße Mieze sein – das ideale Subjekt –, sonst schlägt uns Hohn und Spott entgegen.
Schon kleine Mädchen lernen das alles, weil sie nie die Wünsche hinterfragen sollen, die man von ihnen erwartet: wer sie einmal sein wollen, mit wem sie das Leben teilen und was sie in die Welt einbringen wollen. Setz nicht zu früh Kinder in die Welt, das machen die armen Mädchen, aber denk dran, du musst Kinder bekommen, sobald du dir ein Kindermädchen leisten kannst. Und wenn du das Kindermädchen bist? Dann zieh dir ein hübsches Kleidchen an und lächle und hoffe darauf, dass du noch rechtzeitig von der Arbeit nach Hause kommst, um deine Hausaufgaben zu erledigen oder deine eigenen Kinder ins Bett zu bringen. Was, schon die Vorstellung macht dich müde? Es schüttelt dich bei dem Gedanken an vierzig Jahre gnadenlose Konformität, daran, was es an Zeit und Geld kostet, an Hunger, Selbsthass und Selbstaufopferung, und das alles nur, um vielleicht eines Tages behütet und geliebt zu werden? Hast du Angst, dass du nie genügen wirst?
Diese Angst ist durchaus berechtigt. Natürlich werden wir nie genügen. Wir können nie genügen. Nur perfekte, schöne Frauen haben Liebe und Erfüllung verdient. Wir aber sind schwach, hässlich, faul und fett. Wenn wir nicht glücklich sind, sind wir selber schuld. Wir hätten uns eben mehr anstrengen müssen. Wir hätten weniger essen und außerdem Geld für die Nasen-OP beiseite legen müssen. Wir hätten klüger sein müssen, dünner, netter, größer, weißer, hübscher, wir hätten unser grauenhaftes Selbst besser im Griff haben müssen. Die Sorge, nicht genug zu haben, ist immer noch männlich besetzt, obwohl Armut nach wie vor überwiegend eine weibliche Erfahrung ist.28 Männer wollen Objekte; Frauen sind Objekte. Männer wollen genug haben und genug erreichen; Frauen wollen einfach nur genügen. Männer wollen; Frauen werden gewollt. Und für Frauen ist es nach wie vor eine echte existenzielle Gefahr, wenn sie nicht begehrt werden. Frauen, die nicht stereotyp attraktiv, jung und gesund sind, sagen oft, sie fühlten sich »unsichtbar« – als gebe es sie gar nicht.
Unsäglicher Hunger
Je mächtiger wir Frauen werden, desto stärker wird uns suggeriert, dass unser Körper völlig unzumutbar ist. Viele der einflussreichsten Frauen der Welt, von Popstars bis hin zu Medienmanagerinnen, tragen in aller Öffentlichkeit Schlachten mit ihrem Gewicht aus, die die Regenbogenpresse nur allzu gern ausbreitet und aufbauscht. Andere, besonders Politikerinnen, werden wegen des angeblich skandalösen Fleischüberschusses an ihrem völlig normalen Bauch oder Gesäß öffentlich der Lächerlichkeit preisgegeben.
Einem kürzlich im Journal of Applied Psychology erschienenen Studienbericht zufolge steigen Gehalt und Einfluss weiblicher Versuchsgruppen in Amerika und Deutschland, je weiter ihr Gewicht unter dem gesunden Durchschnitt liegt, auch wenn man andere Einflussfaktoren für Gewicht und Bezahlung berücksichtigt.29 Bei Männern ist umgekehrt ein höheres Gewicht ein Indikator für finanziellen Erfolg, und erst bei extremer Dickleibigkeit müssen Männer beruflich Abstriche machen.
Ein Kausalzusammenhang lässt sich immer schwer nachweisen. Auch die gründlichste Studie kann unmöglich abschließend klären, ob die Frauen abgenommen haben, weil ihr Gehalt stieg, oder ob ihr Gehalt stieg, weil sie abgenommen hatten. Eines ist allerdings sicher: In Europa und in Amerika entspricht die Angst vor weiblichem Fleisch der Angst vor weiblicher Macht, und die Inszenierung des Ekels vor dem normal großen weiblichen Körper ist in der westlichen Gesellschaft eine zutiefst politische Angelegenheit. Sogar am oberen Ende der Nahrungskette muss der Hunger der Frauen um jeden Preis gezügelt werden, damit es so weitergehen kann wie bisher. Bis hierhin und nicht weiter, und wenn du schon mal da oben bist, wäre es nett, wenn du mal eben mit dem Staubsauger durchgehst.
Diese Studie belegt in aller Deutlichkeit, was die meisten Frauen, die auch nur einen Funken persönlichen oder beruflichen Ehrgeiz in sich haben, instinktiv schon lange wissen: dass sich unser Erfolg im Leben und im Beruf umgekehrt proportional zur Anzahl der Zentimeter Fleisch auf unseren Knochen bemisst und dass ein normaler gesunder Körper in Machtpositionen nicht erwünscht ist. Auch nach einem Jahrhundert Feminismus dürfen nur wenige Frauen eine Machtposition in Unternehmen, Medien und Politik einnehmen – und dort sollen sie möglichst wenig physischen Raum beanspruchen. Wenn es einen Typ Frau gibt, den die Medien nicht leiden können, so ist es das politische Schwergewicht.
Das alles ist allerdings harmlos im Vergleich zu dem Horror, den die Gesellschaft für korpulente und dazu auch noch arme Frauen bereithält. In den westlichen Industriestaaten, in denen die Quantität der Nahrung weniger Probleme bereitet als die Qualität, ist Übergewicht oft sogar ein Symptom der Armut, und diese Fehlernährung hat den unverhohlenen Ekel der kulturellen Rechten vor Frauen der Arbeiterklasse, die zu viel Raum einnehmen, lediglich zementiert.
Vom Vorstandszimmer bis in die Gosse gilt: Das Bestreben der Frauen, den Body-Mass-Index so niedrig wie möglich zu halten, gründet auf der berechtigten Angst, dass wir bestraft werden, sobald wir den patriarchalen Raum betreten. Kein Wunder, dass so viele von uns hungern.
Wer verhindern will, dass Mädchen etwas erreichen, zwingt sie am besten dazu, alles zu erreichen. Während sich Feministinnen früher über die »zweite Schicht« beschwerten, die Frauen jenseits des Arbeitsplatzes mit Hausarbeit und Kindererziehung übernahmen, hat heute die Verpflichtung zur bedingungslosen Leistungsbereitschaft sämtliche Lebensbereiche infiziert: Wir müssen akademisch erfolgreich sein, gesellschaftlich gewandt, körperlich attraktiv, sexuell verführerisch, aber nicht zu »nuttig«, ehrgeizig, aber bitte nicht »penetrant«.
Eines der ersten Dinge, die Mädchen erfahren, ist ihre Machtlosigkeit. Ich meine damit die körperliche Machtlosigkeit: dass Jungs stärker und fitter sind und es auch immer sein werden, ob das nun stimmen mag oder nicht. Ein paar Monate vor den Olympischen Spielen stellte die Zeitschrift Grazia Trainingsübungen der Top-Leichtathleten vor – präsentiert von Models in Designermode, die aussahen, als seien sie kaum in der Lage, die Requisiten zu stemmen, die sie in der Hand hatten.30 Körperlich starke Frauen beeindrucken die Werbeleute nicht, daher befanden sich die Bilder der Athletinnen und Athleten ganz klein unten auf der Seite. Frauen sollen nicht aussehen, als könnten sie ihre Gegner in die Knie zwingen. Hauen dürfen wir höchstens ein Kissen, vorzugsweise in Dessous vor laufender Kamera, da bremst nicht einmal das Patriarchat, das Kissenschlachten durchaus zugetan ist.
Die Kämpfe, die junge Mädchen unter dem Spätkapitalismus ausfechten, sind die Kämpfe unseres Zeitalters, und es geht um Würde, Gender und Identität. Das junge Mädchen, dessen Unterwürfigkeit zu seinem Charme gehört, sollte doch besser wissen als jede andere, dass sie an ihrem Elend nur selbst schuld ist. Sie spürt, dass sie sich zu einer Ware macht, zu Fleisch, das in eine Kunststoffform gepresst wird, doch wenn ihre Seele rebelliert, schließt sie daraus, dass sie als Ware noch nicht gut genug ist, und so strengt sie sich noch mehr an, ihre peinlichen und unangenehmen Ecken und Kanten abzuschleifen.
Also arbeitet sie. Alle