In der griechisch-römischen Phase erlebte Ägypten nicht nur eine Blütezeit, es wurde auch zu einem multikulturellen Schmelztiegel und sollte dies über viele Jahrhunderte auch bleiben. Die hellenistischen Ptolemäer übernahmen Elemente der ägyptischen Traditionen. Die verschiedensten religiösen und künstlerischen Einflüsse verschmolzen zu neuen Ideen. Alexandria wurde zu einem Zentrum von Wissenschaft und Philosophie. Der später zerstörte Leuchtturm der Stadt gehörte zu den Sieben Weltwundern, Alexandrias Bibliothek war die wichtigste der Antike. Daneben wirkten römische, jüdische und später christliche Einflüsse. Während der römischen Phase wurde Alexandria zum ersten Ort der Welt mit Straßenbeleuchtung. Die Laternenmasten wurden hier hergestellt, man kennt nicht nur die Namen der Fabrikanten, sondern weiß auch, dass die Laternen vier Stunden pro Nacht brannten.
Selbst in der entlegenen Halboase Fayyum, rund 100 Kilometer südwestlich von Kairo, trafen Ägypter auf zugezogene Makedonier, Griechen und Römer. Die koptisch-orthodoxe Kirche Ägyptens soll bereits wenige Jahrzehnte nach dem Tod von Jesus gegründet worden sein und gehört damit zu den ältesten christlichen Gemeinden. Schließlich eroberten muslimische Araber um 640 das Niltal. In den folgenden Jahrhunderten war Ägypten oft ein Zentrum der islamischen Welt. Neben den arabischen gab es starke türkische Einflüsse, die von der Jahrhunderte währenden osmanischen Herrschaft herrührten. Das kann man heute noch in der Alltagssprache der Ägypter hören. Das Wort Basha für Pascha kommt aus dem Türkischen, ebenso Gazma für Schuhe oder Agzakhana für Apotheke. Die Baltagiyya, von denen in den vergangenen Jahren in Ägypten so oft die Rede war, also die Schlägertrupps aus den Armenvierteln, die für wenig Geld Regimegegner verprügeln, selbst ihre Bezeichnung geht auf das Türkische zurück: Aus Balta, türkisch für Axt, wurde im Ägyptisch-Arabischen das Wort Baltagi als Bezeichnung für den mit einer Axt Bewaffneten.
Als Napoleon während des Ägyptenfeldzuges in der Nähe der Pyramiden eintraf, soll er angeblich seinen Soldaten ergriffen zugerufen haben: »Vergesst nicht, dass von diesen Monumenten 40 Jahrhunderte auf euch herabblicken!« Das ist höchstwahrscheinlich nur Legende. Zu jenem Zeitpunkt konnte Napoleon die Pyramiden noch gar nicht gesehen haben, er hielt die Ansprache irgendwo nördlich des Dorfes Imbaba, wo das ägyptische Heer wartete. Zudem fand Napoleons »Schlacht an den Pyramiden« ebenfalls kilometerweit von den Pyramiden entfernt statt. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich lösten die in Napoleons Heer mitreisenden Wissenschaftler und Künstler mit den Ergebnissen ihrer Expedition eine wahre Ägyptomanie in Europa aus. Das Interesse für Ägypten wurde immer größer. Bohemiens und Künstler begannen im 19. Jahrhundert damit, vor dem europäischen Winter nach Oberägypten zu fliehen. Vor 200 Jahren schrieb Ali Bey al-Abbassi über Europäer in Ägypten: »Sie halten an der Tracht und an den Gebräuchen ihrer Länder fest, und wenn sie sich einmal auf der Straße zeigen, zieht ihre Eigenart die öffentliche Neugier auf sie. Dadurch aus der Fassung gebracht, gleichen sie dann in ihrem exaltierten Dahinschreiten Wahnsinnigen.«
Die klassische Nilreise wurde populär, Gustave Flaubert, Agatha Christie, Thomas Mann, Ingeborg Bachmann und viele andere kamen. Für Fürst von Pückler-Muskau war die Tempelinsel Philae bei Assuan »eins der lieblichsten Wunder im Land der Pharaonen«. Den Tempel gibt es noch, obwohl die Insel selbst gar nicht mehr existiert, denn sie ist untergegangen. 1977, nach dem Bau des Assuan-Staudammes, hatte man die Tempelanlage inklusive des berühmten Isis-Heiligtums in fast 50 000 Einzelteile zerlegt und ein paar Hundert Meter weiter auf der Insel Agilka neu errichtet. Da steht sie heute immer noch, als sei nichts gewesen. Auch der berühmte ptolemäische Kalabsha-Tempel ein paar Kilometer südwestlich befindet sich an einem neuen Ort, auf einer Insel mitten im Stausee, den es zu Flauberts Zeiten noch gar nicht gab. Die Kulturlandschaft Nubien ist versunken, und selbst die berühmte Tempelanlage von Abu Simbel ging auf Wanderschaft. Nichts ist mehr, wie es einmal war – und trotzdem irgendwie noch genauso.
Auch die britische Herrschaft über Ägypten hinterließ Spuren im Land. Sie dauerte 40 Jahre und endete 1922 mit der Unabhängigkeit. Ägypten wurde wieder ein Königreich, das allerdings nur kurze Zeit Bestand hatte. Nachdem die sogenannten Freien Offiziere unter Führung von Gamal Abdel Nasser 1952 einen Staatsstreich verübt hatten, wurde König Faruq ins Exil gejagt. Es begann die bis heute andauernde Phase der »Offiziersrepublik«. Mit Ausnahme der Jahre 2011 bis 2013 hatten seit 1953 immer Ex-Militärs das Präsidentenamt inne. Einschließlich Feldmarschall a. D. Abdel Fattah al-Sisi waren dies insgesamt fünf.
Ägypten, das in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder eine Schlüsselrolle in der arabischen Welt spielte, hat sich seit dem Militärputsch von 2013 nicht komplett, aber weitgehend auf sich selbst konzentriert. Außenpolitisch wird nur das gemacht, was das Land vor dem Zusammenbruch bewahren soll.
Die Beziehungen zu Israel sind von Pragmatismus geprägt und vergleichsweise eng. In Tel Aviv ist man froh, dass Ägypten unter al-Sisi ein berechenbarer Partner ist. Unter dem islamistischen Präsidenten Mursi, der ab Juni 2012 ein Jahr lang im Amt war, war das Verhältnis der beiden Staaten angespannter. Mursi hatte sich zwar zum Friedensvertrag mit Israel bekannt, der 1978 im US-amerikanischen Camp David unterzeichnet wurde, er wusste, dass er sich andernfalls die Unterstützung aus dem Ausland verscherzt. Aber andere ranghohe Führer der Muslimbruderschaft erklärten, dass der Friedensvertrag alles andere als unantastbar sei. Allerdings gelangten im Januar 2013 antisemitische Äußerungen von Mursi an die Öffentlichkeit, unter anderem hatte die New York Times auf sie aufmerksam gemacht. Sie stammten aus dem Jahr 2010. Darin sprach Mursi zwar nicht von Juden, sondern von Zionisten, aber er verwendete eindeutig antisemitische Stereotype. Bei einer Recherche entdeckte ich kurz darauf Audioaufnahmen, in denen sich Mursi noch drastischer antisemitisch äußerte. In einer Rede vor Mitgliedern der Ärztekammer der ägyptischen Provinz Al-Sharqiyya erklärte er Anfang 2010: »Meine Brüder, wir dürfen nicht vergessen, unseren Kindern und Enkelkindern den Hass auf die Juden beizubringen. Mit diesem Hass müssen wir sie füttern, er muss erhalten bleiben.« Palästina werde nicht ohne Widerstandskampf befreit werden können. Die Zionisten müssten bekämpft werden, wo immer sie sich aufhielten. Von al-Sisi wird man solche Äußerungen nicht hören. Mit Israel verbinden ihn eine Reihe gemeinsamer Interessen. Ab 2020 bekommt Ägypten aus dem jüdischen Nachbarstaat Erdgas geliefert, auf der Grundlage eines Vertrages, der eine Laufzeit von 15 Jahren hat. Mindestens ebenso wichtig ist aber die Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit. Wie die New York Times zuerst berichtete, flogen israelische Kampfflugzeuge, Militärhubschrauber sowie Drohnen seit dem Herbst 2015 mehr als 100 Luftangriffe auf Ziele im Norden des Sinai. Die Angriffe richten sich gegen Stellungen von Terroristen des sogenannten Islamischen Staats auf ägyptischem Gebiet. Das geschieht mit dem Einverständnis von al-Sisi. Die IS-Terroristen sind ein gemeinsamer Feind von Ägypten und Israel. In den Jahrzehnten vor Abschluss des Friedensvertrages von Camp David standen sich die beiden Länder noch in vier Kriegen gegenüber. Auf die beiden ersten in den Jahren 1948/49 sowie 1956 folgten 1967 der Sechs-Tage-Krieg sowie 1973 der Jom-Kippur-Krieg, der in Ägypten Oktoberkrieg genannt wird, weil er am 6. Oktober begann.
Besonders enge Beziehungen pflegt Ägypten zu Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die drei Golfmonarchien sind froh, dass Ägyptens Militär den gesellschaftlichen Umbruch im bevölkerungsreichsten arabischen Land abgewürgt hat, und helfen mit Milliardensummen aus. Das Regime von al-Sisi unterstützt den aufständischen General Haftar in Libyen militärisch, in der Hoffnung, er könne das Nachbarland mit eiserner Faust stabilisieren. Al-Sisi sucht die Nähe zu den autokratischen Regimen in Russland und China, kann sich aber schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht vom Westen entfernen. Da passte es gut, dass US-Präsident Donald Trump Präsident al-Sisi als seinen »Lieblingsdiktator« bezeichnete. 2019 war Ägypten weltweit