Dafür müsste Ägypten das Stigma verlieren, ein unsicheres, riskantes (Urlaubs-)Land zu sein. In den Jahren nach der Revolution von 2011 war die politische Entwicklung oft verwirrend. Es hat Umbrüche, Wirtschaftskrisen, Machtwechsel und an einigen Orten auch Gewalt gegeben, aber in fast allen dieser Phasen war Ägypten für Urlauber ziemlich sicher. Die Zahl der Touristen, die ans Rote Meer oder zu den pharaonischen, christlichen und islamischen Altertümern kommen, wächst nun seit einigen Jahren wieder, und dieser Trend könnte noch mehr Schwung bekommen. Das hat vor allem mit der bevorstehenden Eröffnung des Grand Egyptian Museum zu tun. Im Herbst 2020 soll es soweit sein, dann wird das größte archäologische Museum der Welt feierlich in Kairo eingeweiht. Einzigartige historische Artefakte werden den Besuchern aus aller Welt dann zugänglich sein, wie zum Beispiel auf jenen 7000 Quadratmetern, auf denen zum ersten Mal alle 5000 Grabbeigaben aus dem Grab von Tutanchamun gezeigt werden, einschließlich der berühmten Totenmaske aus Gold.
Als ich vor Jahrzehnten das erste Mal nach Kairo gezogen war, wohnte ich in Bab al-Shaariyya, einem ärmeren Altstadtviertel unweit des berühmten Basars Khan al-Khalili. Morgens weckte mich der Gesang der Nachbarstochter von gegenüber, wenn sie auf dem Balkon die Wäsche zum Trocknen aufhängte. Vor dem Haus grüßte mich Ahmed fröhlich, so oft ich an seiner mobilen Teeküche vorbeikam. Der Postbote rief beschwingt meinen Namen, wenn er einen Brief für mich hatte. Bis heute habe ich mit Unterbrechungen insgesamt rund 20 Jahre in Kairo gelebt. Und immer habe ich den Humor, die Gelassenheit und die Hilfsbereitschaft vieler Ägypter bewundert, vor allem angesichts der Lebensbedingungen, die sie oft ertragen müssen. Ich halte die Menschen für die eigentliche Attraktion des Landes.
Gelegentlich sagen Leute zu mir, dass sie nicht nach Ägypten reisen, weil sie den brutalen Polizeistaat nicht unterstützen wollen, der dort ja tatsächlich herrscht. Ich halte diese Einstellung für falsch, denn in erster Linie trifft sie die, die es nicht verdient haben, dass man sie meidet. Die allermeisten Ägypterinnen und Ägypter verabscheuen Gewalt, besonders auch die gegen Gäste ihres Landes, egal, ob diese Gewalt religiös verbrämt oder politisch motiviert ist. Dass Ägypten nach 2011 nicht in blutigem Chaos versank wie andere Länder der Region, das liegt zuallererst an ihnen. Wie alle anderen Menschen auch, wünschen sich die meisten Ägypter vor allem einen friedlichen Alltag in einem möglichst stabilen Land. Man sollte sie nicht bestrafen für ein repressives Regime, unter dem sie selbst am stärksten leiden. Wer eine Reise nach Ägypten unternimmt, wird mit einer Gastfreundschaft belohnt, die zu Recht legendär ist.
In diesem Buch werden daher die Ägypterinnen und Ägypter die Hauptrollen spielen, ihre Lebensweisen und Eigenarten. Es wird auch viel um Politik gehen, um Wirtschaft, Kultur und Geschichte. Doch im Mittelpunkt stehen die Menschen und ihr Streben nach einem Leben in Freiheit.
Der Nil
Die wichtigste Konstante Ägyptens
Ägypten sei ein Geschenk des Nils, so hat es der antike griechische Geschichtsschreiber Herodot formuliert. Der Nil ist tatsächlich die ewige Konstante Ägyptens, an der sich alles andere messen lassen muss. Die allermeisten Ägypter verbringen ihr gesamtes Leben mehr oder weniger in seiner Nähe, und sie haben das verinnerlicht, was vor fast zweieinhalb Jahrtausenden auch schon Herodot aufgefallen war. Im Großstadtmoloch Kairo ist der Nil einer der wenigen Orte, an dem fast alle Ägypter, die ich kenne, ein Gefühl von Ruhe und Frieden verspüren. Wo der breite Strom die dicht bebaute Riesenstadt in ihrer Mitte durchschneidet, da kann man endlich den Blick auch mal in die Ferne schweifen lassen. Junge ägyptische Start-up-Unternehmer haben dieses Sehnsuchtspotenzial und den »Chillfaktor« erkannt und schufen das Nile Taxi. Die zitronengelben Motorboote fahren an der frischen Luft und ohne Staugefahr auf festen Strecken in der Stadt hoch und runter.
Ohne den Nil gäbe es Ägypten in dieser Form nicht. Ohne ihn bestünde die gesamte Landesfläche fast ausnahmslos aus unbarmherziger, lebensfeindlicher Wüste. Auch mit dem Nil sind es zwar immer noch rund 95 Prozent Wüste, aber die restlichen fünf Prozent hat der Nil an seinen Ufern zu Gärten und fruchtbaren Feldern gemacht. Deshalb ist der Fluss eine Art ägyptisches Nationalheiligtum. Wer sich ihm unziemlich nähert, begeht eine unverzeihliche Sünde. Zuletzt musste dies die beliebte ägyptische Sängerin Sherine erfahren. Bei einem Konzert 2017 im Golfstaat Bahrain machte sich der Popstar über die Redensart lustig: »Wer einmal vom Nil getrunken hat, kommt immer wieder hierher zurück.« Ein Fan hatte darum gebeten, dass sie ihr Lied »Hast du nicht aus dem Nil getrunken?« singt, das die Redensart aufgreift. Spöttisch antwortete die Sängerin: »Wenn ich aus dem Nil trinke, bekomme ich Bilharziose.« Also eine in Ägypten verbreitete Wurmkrankheit. »Trink lieber Evian!«, rief Sherine dem Mann noch zu. Bei so manchem patriotischen Ägypter löste das Empörung aus, es verletzte seinen Nationalstolz. Ein Gericht verurteilte daraufhin die Sängerin zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet rund 300 Euro. In der Revision wurde das Urteil aufgehoben. Der Berufsverband der Musiker verhängte allerdings eine zweimonatige Auftrittssperre für Sherine in Ägypten.
Gelegentlich habe ich die Behauptung gelesen, dass der Nil der Grund dafür sei, dass Ägypter das Leben oft mit einem erstaunlichen Gleichmut hinnehmen und dass sie so entspannt und gelassen sind. Diese Gelassenheit und auch der Humor vieler Leute sind etwas, das mich selbst nach 20 Jahren im Land immer noch erstaunt – vor allem angesichts der Lebensbedingungen, die viele Ägypter ertragen müssen. Das soll darin begründet sein, dass der Nil über Jahrtausende das Leben der Ägypter geprägt hat, und zwar mit einer Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit, die für die Menschen nur göttlichen Ursprungs gewesen sein konnte. Der breite majestätische Strom stellte nicht nur fast immer ausreichend Wasser bereit. Jedes Jahr im Sommer sorgte er auch für einen ganz besonderen Segen. Jährlich ab Juni stieg bei Assuan der Pegel des Flusses, weil es zuvor im äthiopischen Hochland stark geregnet hatte. Innerhalb von zwei Wochen hatte das Hochwasser erst Kairo, dann das Nildelta erreicht. Der Höhepunkt der Flut war zwischen August und Ende September, danach ging der Pegel innerhalb weniger Wochen wieder auf den normalen Stand zurück. Die überfluteten Flächen waren vom Hochwasser ausgewaschen worden und versalzten deshalb nicht. Zurück blieb fruchtbarer Schlamm als Dünger, um den sich niemand kümmern musste. Komfortabler geht es kaum.
Das dies die Mentalität von Menschen prägte, erscheint mir plausibel. Es kann eigentlich gar nicht anders sein, als dass diese immerwährende und fast in jedem Jahr pünktlich wiederkehrende Erfahrung ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist und zu dem Wunsch führte, dass alles so bleibt, wie es ist. Denn dann ist es in bester Ordnung. Den Göttern sei Dank beziehungsweise Gott sei Dank! Nun weiß ich nicht, wie lange es dauert, bis eine wiederkehrende Erfahrung die Mentalität eines Volkes prägen kann. Aber es ist eine schöne Geschichte.
Und die wiederkehrenden Nilfluten sind tatsächlich nur noch Geschichte. Den Ägyptern von heute ist längst klar, dass der Nil eine sensible und gefährdete Ressource ist. Es begann damit, dass bei Assuan erst Staumauern errichtet wurden, dann ein kleiner Staudamm und schließlich in den 1960er Jahren der große Assuan-Staudamm. Der Bau des wichtigen Prestigeobjekts begann während der Herrschaft des damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Der Damm wurde mehrmals erweitert und hat respektable Ausmaße erreicht: knapp einen Kilometer breit, vier Kilometer lang und 111 Meter hoch. Anscheinend wurde hier 17-mal so viel Stein verbaut wie für die Pyramiden von Giza – der Vergleich zeigt, in welche Liga unter den Bauwerken der Damm für viele