»Sie war ein wunderbarer Mensch, Alexander, und hätte jedem Fürstenthron zur Ehre gereicht. Sie wurde in einem der vornehmsten Schweizer Internate erzogen und besaß eine einzigartig schöne Stimme. Wäre sie eine Bürgerliche gewesen, sie hätte sich mit dieser Stimme ein Vermögen ersingen können.«
»Also zog sie es vor, mit ihrem Mu-
siklehrer durchzubrennen«, wirft Fürst Alexander ein, als die Fürstin-Mutter eine Pause macht. »Hast du dich nie wieder um deine Tochter gekümmert, Großmama? Hast du irgendwelche Nachforschungen angestellt?«
»Natürlich habe ich das. Aber alles mußte in aller Heimlichkeit geschehen. Wir durften es doch zu keinem Skandal kommen lassen. Leider war es damals so. Auch ich, als Mutter, mußte mich dem Hausgesetz fügen und durfte von Stunde an den Namen meiner Tochter Henriette nicht mehr nennen. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Bei Gott, ich habe es hundertmal bereut, mich nicht einfach über diesen Zwang hinweggesetzt zu haben und weiter nach ihr zu forschen.
Heute existiert dieses Gesetz nicht mehr, Gott sei Dank. Du wirst der erste von Thorsten-Thorn sein, der frei nach seinem Herzen wählen darf.«
Das Gesicht der Fürstin-Mutter scheint wie versteinert und sieht verfallen aus. Fürst Alexander empfindet tiefes Mitleid mit ihr. Er weiß, daß sie heimlich sehr gelitten haben muß.
»Aber jetzt steht es dir doch frei, nach deiner Tochter Nachforschungen anzustellen«, sagt Fürst Alexander nach einer Pause. »Wäre es für dich nicht eine große Beruhigung, zu wissen, was aus Henriette geworden ist?«
Die Fürstin-Mutter sieht ihn aus wie erloschen wirkenden Augen an. Mit Anstrengung erhebt sie sich, hält sich ein paar Sekunden am Tisch fest und strafft ihre Gestalt.
»Bitte, Alexander, ich wünsche über die Angelegenheit nicht mehr zu sprechen. Du weißt alles, was du wissen mußt.«
In vorbildlicher Haltung verläßt sie die Abendtafel. Mit Bestürzung sehen die Zurückbleibenden hinter ihr her.
*
»Mutti!« Madame Chapu legt das soeben von der Fürstin-Mutter eingegangene Schreiben aus der Hand und blickt erwartungsvoll auf ihre Tochter.
»Ja, Kind?«
»Kommt zum diesjährigen ›Fürsten-
Ball‹ wieder Madame Orgon in das Palais?«
»Gewiß, Kind. Man teilt es mir soeben mit, daß ich alles in die Wege leiten soll.«
Ungestüm erhebt Beatrix sich und läßt sich neben dem Sessel ihrer Mutter nieder.
»Muschi«, bittet sie mit der ganzen Unwiderstehlichkeit der Jugend, »muß denn unbedingt die Orgon singen? Kannst du mich nicht ins Palais schikken?«
Entsetzt wehrt Germaine Chapu ab. »Aber Kind, was denkst du dir? Es
geht auf gar keinen Fall. Es geht
nicht, Beatrix, es geht wirklich nicht. Was meinst du, was für Unannehm-
lichkeiten für mich daraus entstehen würden. Die Orgon wäre fähig, alle
meine Schüler gegen mich aufzuhetzen, vielleicht die Schüler nicht so sehr, als deren Eltern. Gib dich damit zufrieden, Liebes. Außerdem bist du viel zu
jung.«
»Das finde ich gar nicht«, läßt sich eine dunkle wohltönende Stimme hören, bei deren Klang Mutter und Tochter erschreckt zur Tür schauen.
Lächelnd kommt die Fürstin-Mutter näher, die das Mädchen, das sie anmelden wollte, einfach zur Seite schob und den Wohnraum des ihr sehr bekannten Hauses betritt und so Zeuge der leidenschaftlichen Bitte Beatrix’ wurde.
»Durchlaucht!« Wie elektrisiert fährt Germaine Chapu von ihrem Sitz auf und geht der vornehmen Besucherin entgegen. Auch Beatrix steht langsam auf und starrt auf die Fürstin-Mutter, die sie heute zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekommt. Sie war schon häufig Gast in dem kleinen Haus, aber nie durfte Beatrix dabei in Erscheinung treten.
»Wer ist denn diese junge, impulsive Dame?« erkundigt die Fürstin-Mutter sich und betrachtet mit Wohlgefallen das schöne Mädchen.
Madame Chapu sieht verstört aus. Ihre Augen wandern von der Fürstin-Mutter zu Beatrix.
»Es ist, es ist meine Tochter«, stammelt sie.
»Ihre – Tochter?« erwidert die Fürstin gedehnt und schüttelt den Kopf. »Aber, meine Liebe, warum haben Sie mir denn dieses liebliche Kind unterschlagen?«
»Ich, ich hatte meine Gründe«, versetzt Madame Chapu reserviert und preßt die Zähne zusammen. Ein kurzer, scharfer Blick streift die Sprecherin, dann wendet sie sich Beatrix zu.
»Ich verstehe. Nun, man soll sich nicht in die Angelegenheiten fremder Menschen stecken. Und warum lassen Sie Ihre Tochter nicht zum ›Fürsten-Ball‹ singen? Das ist eine Angelegenheit, die auch mich angeht. Und finden Sie es besonders nett, daß Sie mir bis jetzt Ihre Tochter noch nicht vorgestellt haben?«
»Verzeihung, Durchlaucht. Es gibt wenige Menschen, die um die Existenz meiner Tochter wissen«, weicht Ger-maine Chapu aus.
»Singen kann sie auch? Haben Sie Ihre Ausbildung übernommen?« forscht die Fürstin weiter.
Germaine Chapu zuckt mit den Schultern. »Es gibt nichts, was ich meiner Tochter noch beibringen könnte.«
Beatrix errötet bis unter das schwarzblaue Haar. Noch nie hat sie jemals von ihrer Mutter ein Lob in dieser Form gehört.
»Waas?« Die Fürstin ist ehrlich erstaunt. »Das sagen Sie so einfach dahin?« Und noch lebhafter setzt sie hinzu: »Jetzt haben Sie mich so neugierig gemacht, daß ich Ihre Tochter unbedingt singen hören muß. Wollen Sie, mein Kind?« wendet sie sich direkt an Beatrix.
»Sehr gern, Durchlaucht«, versichert sie eifrig und macht eine kleine einladende Handbewegung zum Nebenzimmer.
Der Flügel singt und klingt unter Germaine Chapus Händen, und dann setzt Beatrix mit ihrer glockenreinen Stimme ein. Sie hat das Gebet aus der Oper »Tosca« gewählt. Schon bei den ersten Tönen neigt die Fürstin-Mutter sich interessiert vor, als könne sie dadurch das junge Mädchen besser in Augenschein nehmen. Und von Minute zu Minute wächst ihr Erstaunen.
Die Fürstin-Mutter lehnt sich zurück und schließt die Augen. Die Wände des Zimmers scheinen zurückzutreten, und sie sieht eine andere Frauengestalt und ein anderes Frauenantlitz vor sich. Sie hört eine andere Stimme, die auch so rein, so warm und so voll Innigkeit war. Nein! Es ist nur eine Erinnerung.
Allmählich kehrt die Fürstin in die Wirklichkeit zurück. Sie mißt Beatrix mit einem langen, eingehenden Blick und sagt spontan in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet:
»Madame, Sie werden am 6. Februar Ihre Tochter in das Palais zum Fürstenball begleiten. Eine Sondereinladung erhalten Sie noch.«
»Und Renata Orgon?« entfährt es Germaine Chapu.
»Sie wird ebenfalls zum Fürstenball erscheinen und sich einmal anhören müssen, wie sie nicht einmal zu ihrer Glanzzeit gesungen hat. Auf Wiedersehen. Es war mir eine große Freude.« Sie reicht Germaine die Hand und Beatrix fährt sie über die heißglühende Wange. »Sie werden singen dürfen, mein Kind. Dafür lassen Sie mich sorgen. Eine passende Balltoilette lasse ich Ihnen zugehen.«
»Aber, Durchlaucht!« wirft Ger-
maine scheu ein.
»Sie sind sozusagen meine Entdeckung und mit dieser will ich auf der ganzen Linie glänzen, verstanden?«
»Vielen Dank, Durchlaucht!« Beatrix verneigt sich