»Wie geht es Paps?« fragte sie.
»Er schläft noch, aber sein Puls ist gut. Erschrecken Sie nicht, Sophia, wir haben noch einen Patienten auf der Intensivstation, einen jungen Skirennläufer, der schwer verletzt ist.«
»Wie heißt er?«
»Sven Böring.«
»Er hat vor ein paar Tagen gewonnen, ich habe es im Fernsehen gesehen. So schnell kann alle Hoffnung dahin sein.«
»Aber die Sportler wissen um die Gefahren«, meinte Astrid.
»Wie die Autofahrer, aber manchmal trifft es die Schuldlosen.«
Eine Trennwand war zwischen Elmo Ohlsen und Sven Böring. Astrid hatte für Sophia einen bequemen Stuhl ans Bett geschoben. Sie hatte sich entfernt, kam aber gleich zurück. »Ihr Brief, Sophia«, sagte sie leise.
Sophia sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Haben Sie schon mal das Gefühl gehabt, einen Brief am liebsten nicht zu lesen, Schwester Astrid?«
»Ich bekomme keine Post. Ich stamme aus Ostpreußen, dem jetzigen Polen, und bin als Waise aufgewachsen, aber weil ich deutscher Abstammung bin, wurde ich abgeschoben.«
»Sie haben gar keine Angehörigen?« fragte Sophia bestürzt.
»Ich kann froh sein, daß ich zu einem Orden kam vor fünfzehn Jahren und zur Krankenschwester ausgebildet wurde. Jetzt ist das Krankenhaus meine Heimat. Ich habe mehr Glück gehabt als andere.«
»Aber Sie haben doch sicher Freunde gefunden.«
»Das ist nicht so einfach, wenn man ein Außenseiter ist. Aber denken Sie nicht, daß ich unzufrieden bin. Ich habe einen Beruf, der mich ausfüllt.«
»So habe ich mir als Kind immer Engel vorgestellt«, sagte Sophia leise. »Oder eine Mutter, die ihr Kind liebt. Eine Madonna.«
Astrid strich ihr übers Haar, das auch so blond war wie ihres. »Etwas so Nettes hat noch nie jemand zu mir gesagt. Sie sind lieb, Sophia.«
»Wir werden Freunde, das fühle ich. Soll ich den Brief lesen, Schwester Astrid?«
»Er ist bestimmt sehr, sehr wichtig.«
»Und wenn etwas darin steht, was ich nicht wissen möchte?«
»Wenn Sie ihn nicht lesen, wird immer die Frage bleiben, was er enthält. Das ist oft schlimmer als eine Gewißheit.«
»Sie haben sicher recht. Es ist gut, daß ich Sie kennengelernt habe. Es hilft mir, weil ich nicht mit Paps reden kann.«
Unwillkürlich verglich Astrid sie mit zwei jungen Lernschwestern, die im gleichen Alter wie Sophia waren. Sie hatte öfter gehört, wie sie sich über ihre Eltern unterhielten, besonders über ihre Väter, von denen sie keine gute Meinung hatten. Allerdings hatten diese beiden Mädchen auch ganz andere Ansichten als Sophia. Sie wollten frei sein, sich jedem Zwang entziehen, denn sie sahen es als Zwang, wenn sie sich der Familie anpassen sollten. Sie hatten ihr Elternhaus so schnell wie nur möglich verlassen, und obgleich sie sich für einen nicht leichten Beruf entschieden hatten, wollten sie ihre Freizeit unbeschwert genießen und besuchten ihre Eltern nur selten.
Sophias Liebe zu ihrem Vater war rührend und beeindruckte Astrid tief. Sie empfand eine Sympathie für das Mädchen wie zu keinem anderen Menschen zuvor. Sie hatte nie daran gedacht, ein Kind haben zu wollen, weil ihre eigene schwere Kindheit immer noch ihre Erinnerung belastete, aber jetzt erwachte die Sehnsucht in ihr, eine solche Tochter wie Sophia zu haben. Wenn sie Sophia ansah, empfand sie eine tiefe Zärtlichkeit.
»Ich werde den Brief lesen«, sagte Sophia stockend.
»Ich lasse Sie jetzt allein«, erklärte Astrid, »aber wenn Sie mich irgendwie brauchen, Sophia, ich bin für Sie da.«
Sven Böring rief nach ihr. Er stöhnte. »Ich möchte endlich schlafen, geben Sie mir bitte etwas, und Josy soll draußen bleiben.«
Astrid brachte ihm ein Glas mit Tropfen, und bald herrschte auch Ruhe.
Sophia hatte den Umschlag vorsichtig geöffnet. Der Brief war in deutscher Sprache abgefaßt, nicht perfekt geschrieben, aber gut verständlich. Der Absender hieß Raoul Tabasso und erklärte, der Anwalt von Frau Rinaldi, vormals Janson, geschiedene Ohlsen, Witwe von José Rinaldi seit drei Jahren.
Frau Sarah Rinaldi hat mich im Oktober letzten Jahres beauftragt, für ihre Tochter Sophia diese Erklärung aufzuzeichnen, da sie nicht mehr fähig ist, selbst zu schreiben. Frau Rinaldi weiß, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben hat und möchte ihr Wissen nicht mit ins Grab nehmen. Ihre Tochter soll die Wahrheit über ihre Geburt erfahren, damit ihr nicht durch einen Zufall oder eine jener nicht voraussehbaren Schicksalsfügungen das Leben zerstört wird.
Bis dahin war Sophia nicht sonderlich berührt. Sie hatte von Kindheit an eine Einstellung zu ihrer Mutter wie zu einer völlig Fremden. Diese Frau hatte nie eine Bedeutung für sie gehabt. Sie hatte sie nicht vermißt, denn sie hatte ihren Papi, ihren Paps, wie sie ihn später nannte, als sie erwachsen wurde. So sehr wurde sie geliebt, daß sie nichts vermißte.
Noch ahnte sie nicht, wie bald sie mit einer rauhen schmerzhaften Wirklichkeit konfrontiert werden sollte.
Ich schreibe nieder, wie es mir von Frau Rinaldi diktiert wird: Ich habe von Jugend an ein verrücktes, unruhevolles und abenteuerliches Leben geführt. Einige Männer haben in diesem Leben eine Rolle gespielt, wenn auch keine entscheidende, bis auf einen, der mich zwang zu lügen und andere zu verletzen. Es ist der wirkliche Vater meiner Tochter.
Sophia laß es. Ihr wurde es schwarz vor Augen, weil sie nicht gleich die Wahrheit begriff.
Nicht nur, daß sie mich im Stich gelassen hat, jetzt will sie den besten Menschen, der mir geblieben ist, vernichten, dachte sie. Maßloser Haß brannte in ihr empor. Sie war schon drauf und dran, das Bündel Papiere zu zerreißen, als Astrid eintrat. Die hielt erschrocken den Atem an, als sie in Sophias entsetzte Augen blickte.
»Was ist, Kleines?« fragte sie mit mütterlicher Besorgtheit.
»Sie sind ein Engel, meine Mutter war ein Teufel«, stieß Sophia hervor. Sie sagt, daß mein Leben nicht zerstört werden soll, aber sie ist es, die es zerstören will. Wie konnte sie mir das antun, wie kann sie es meinem Paps antun«, schluchzte sie auf.
Astrid wußte nicht, was sie sagen sollte. »Was steht in dem Brief?« fragte sie nach einem tiefen Atemzug gepreßt.
»Lesen Sie es selbst, ich will nicht weiterlesen. Es soll wohl eine Beichte sein, dabei ist es nur boshaft und gemein, was sie mir hinterlassen will, so wie ihr ganzes Leben gewesen sein muß. Mein Paps darf das nie erfahren. Helfen Sie mir, Schwester Astrid, damit fertig zu werden.«
Sie war nicht erwachsen, sie war ein zutiefst verletztes Kind. Ganz mechanisch nahm Astrid ihr das Papierbündel aus den Händen.
»Komm jetzt mit mir, Sophia«, sagte sie, unwillkürlich zum Du findend. »Sven Böring könnte aufwachen.«
»Paps vielleicht auch«, flüsterte Sophia. »Ich muß mich beherrschen, er darf nichts merken.«
Wie eine Blinde ging sie neben Astrid, die ihre Hand ergriffen hatte.
Astrid rief Schwester Käthe zu, daß sie mal kurz die Wache übernehmen solle, da sie sich um Sophia kümmern müsse.
»Sie sollte mal was essen«, brummte Käthe gutmütig.
»Das stimmt allerdings auch«, sagte Astrid.
»Ich habe keinen Hunger«, widersprach Sophia trotzig. Dann aber verschanzte sie sich hinter noch trotzigerem Schweigen.
»Jetzt sag doch, was dich so wütend macht, Sophia«, drängte Astrid.
»Lesen Sie es, ich will nicht darüber reden.«
Mit einem Gefühl des Unbehagens las Astrid die erste Seite, auf der der Schlußsatz stand, der Sophia so aufgeregt