»Danke, Herr Doktor«, sagte Sophia Ohlsen bebend und legte den Hörer auf.
Man sah ihr die durchwachte Nacht an, die verweinten Augen hatten allen Glanz verloren. Heftig zuckte sie zusammen, als es läutete, obgleich der Gong einschmeichelnd klang.
Sie warf einen Blick in den Spiegel, als sie zur Tür ging und erschrak. Mit einer heftigen Bewegung strich sie das wirre Haar zurück.
Auch der Postbote, der vor der Tür stand, sah sie erschrocken an. »Entschuldigen’s vielmals, Fräulein Sophia, daß ich läuten mußte, aber ich habe ein Einschreiben, das Sie unterschreiben müssen.«
»Ich?« fragte sie geistesabwesend.
»Es ist an Sie adressiert, kommt aus dem Ausland. Es tut mir ja so schrecklich leid, was dem Herr Doktor passiert ist. Ausgerechnet ihn mußte es treffen. Der Robert soll ja tot sein. Das hat er nun von seiner Raserei, aber immer müssen Unschuldige leiden.«
Er meinte es ja nur gut, der Schorschi, wie er von allen genannt wurde, aber in Sophias Ohren waren die Worte wie schmerzhafte Stiche. Es war ein schrecklicher Unfall gewesen, der ihr junges Leben völlig durcheinander brachte, und das nach ihrem neunzehnten Geburtstag, den sie gestern so fröhlich gefeiert hatten.
Sie konnte sich nicht zurechtfinden, hatte die Fassung völlig verloren. Sie drehte den dicken Brief zwischen den Fingern und sah nur grauen Nebel vor ihren Augen.
»Sie müssen noch unterschreiben, Fräulein Sophia«, sagte Schorschi. Aber sie dachte an ihren Vater, der mit dem Tod rang, weil ein leichtsinniger, betrunkener junger Mann die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte.
Sophias Hand zitterte, als sie ihren Namen auf den Zettel schrieb.
»Der Herrgott wird den Herrn Doktor beschützen«, murmelte Schorschi. »Alles Gute wünsch’ ich.«
Sophia nickte nur kurz. Sie drehte den Brief zwischen den Händen, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Es war ihr, als hätte sich alles gegen sie verschworen.
Gestern noch war sie so glücklich gewesen! Wundervoll hatte der Tag begonnen. Ihr geliebter Paps hatte vorher nichts verraten, und dann hatte ein funkelnagelneues silberblaues Auto vor der Tür gestanden mit einer großen weißen Schleife und einem Strauß weißer Rosen, die sie so liebte. Bis Mitternacht wurde eine fröhliche Party gefeiert mit einem Dutzend junger Leute, mit denen sie aufgewachsen war. In einem kleinen Ort mit fünfzehntausend Einwohnern hielt man anders zusammen als in der Großstadt. In diesem Ort war Dr. Elmo Ohlsen der bei allen beliebte Tierarzt, denn irgendein Haustier hatten die meisten.
Robert Klinger war zu der Party nicht eingeladen gewesen. Man hatte sich von ihm distanziert, als der verwöhnte Sohn des Bauunternehmers nicht nur mit seinen Playboyallüren, sondern auch wegen seiner Neigung zu Alkohol und Drogen unangenehm auffiel. Aber immer wieder versuchte er, Kontakt zu Sophia zu bekommen, und immer wieder wies sie ihn zurück.
Dr. Ohlsen hatte drei Freundinnen von Sophia heimgebracht, die etwas weiter entfernt wohnten, während die anderen Gäste zu Fuß gekommen waren. Auf dem Heimweg war dann der Unfall passiert, an der Kreuzung, unweit des Anwesens des Bauunternehmers Klinger.
Robert war der einzige Sohn, aber Sophia konnte nicht daran denken, was sie wohl empfinden mochten, sie dachte an ihren Vater, den einzigen Menschen, den sie liebte, dem sie sich verbunden fühlte. Sie hatte grenzenlose Angst, ihn zu verlieren.
Sie wagte kaum, sich in das neue Auto zu setzen, aber sie mußte es tun, denn der Weg zum Krankenhaus war weit und sie wollte bei ihrem Paps sein, seine Hände halten und für ihn beten. Nichts anderes war ihr wichtig, auch nicht der Brief, den sie in ihre Tasche steckte, um ihn vielleicht zu lesen, wenn sie lange am Bett ihres Vaters wachte.
Ihr war die Kehle eng und trocken, als sie das Krankenhaus betrat.
Es war ein moderner Bau, der nicht abschreckend wirkte. Eine freundliche junge Schwester brachte sie zu dem Stationsarzt, als sie fragte, wo ihr Vater lag.
Dr. Marlow war jung, groß und breitschultrig, ein sportlicher Typ mit rotbraunem Haar und klaren grauen Augen.
»Ich bin Sophia Ohlsen«, sagte sie bebend, »wie geht es meinem Vater?«
»Den Umständen entsprechend dürfen wir zufrieden sein. Sein Zustand ist stabil. Er hat ein starkes Herz, und die Operation ist gut verlaufen.«
»Würden Sie mich bitte genau informieren? Ich muß alles wissen, damit ich mich entsprechend verhalten kann. Mein Vater neigt dazu, alles Schwierige für sich zu behalten, aber ich bin jetzt kein Kind mehr. Ich wurde gestern neunzehn.«
»Dann war es ja ein dramatischer Abschluß Ihres Geburtstages…«
»Sagen Sie bitte nicht Frau zu mir, ich hasse das«, fiel sie ihm ins Wort.
Er lächelte flüchtig. »Ich sage nicht Frau, und Sie sagen nicht Herr Doktor. Einverstanden, Sophia?«
»Ich kann einfach Doc sagen, wenn es Ihnen recht ist. Was war es für eine Operation?«
»Wir mußten Ihrem Vater eine Niere entfernen, aber die andere ist gesund, und andere Organe sind nicht in Mitleidenschaft gezogen. Dann haben wir noch einen Unterschenkelbruch rechts, ein Schleudertrauma und schwere Gehirnerschütterung. Wir müssen ihn noch durchleuchten, wenn sein Zustand stabil genug ist, aber es besteht keine akute Lebensgefahr.«
Sophia atmete hörbar auf, und er sah sie mitfühlend an. »Jetzt entspannen Sie sich. Sie sehen sehr müde aus.«
»Ich habe nicht geschlafen, weil ich so schreckliche Angst hatte.«
»Sie waren ganz allein?«
Sophia nickte. »Ich wollte auch mit niemandem sprechen. Kann ich jetzt zu meinem Vater?«
»Er liegt noch auf der Intensivstation, das ist so üblich. So wird er auch ständig beobachtet.«
»Darf ich bei ihm bleiben?«
»Sie können sich in einem Nebenraum ausruhen. Wir sind momentan überbelegt und können neue Patienten nicht mehr brauchen.«
»Sehe ich so aus?«
»Zum Umpusten«, erwiderte er. »Schwester Astrid wird Ihnen Tropfen geben, damit der Kreislauf Sie nicht im Stich läßt.«
*
Schwester Astrid erschien Sophia wie ein Engel, so sanft und gütig wirkte sie. Paps wird wenigstens nicht erschrecken, wenn er die Augen öffnet, dachte Sophia unwillkürlich, aber als sie ihn sah mit diesem blassen, starren Gesicht, drängten sich Tränen in ihre Augen.
»Die Narkose wirkt nach«, erklärte Schwester Astrid, »Sie brauchen nicht zu erschrecken. Es ist nur ein postoperatives Koma.«
Das brauchte sich Sophia nicht erklären zu lassen, denn in der Medizin wußte sie ganz gut Bescheid, wenngleich sie sich mehr für die Tiermedizin interessierte, da sie ihrem Vater assistieren wollte. Studieren wollte sie nicht, weil sie meinte, daß ihr Paps Hilfe nötiger brauchte, war es ihr doch wichtig, daß er auch an seine Gesundheit dachte.
Schwester Astrid betrachtete das junge Mädchen, das so in sich gekehrt am Krankenbett saß, nachdenklich. Sie spürte die Angst, konnte sie ihr vom Gesicht ablesen. Behutsam legte sie eine Hand auf Sophias Schulter.
»Er wird es schaffen«, sagte sie leise, »er hat einen starken Willen.«
»Ich möchte bei ihm bleiben«, flüsterte Sophia.
»Wird Ihre Mutter kommen?«
»Sophias Kopf sank noch tiefer. »Ich habe keine Mutter, hatte nie eine, nur meinen Vater«, sagte sie in einem Ton, der Astrid ans Herz rührte.
»Ihr Vater wird leben», sagte sie, und es klang wie ein Versprechen.
*
Sophia war ein paar Minuten allein. Jetzt lösten sich Tränen aus ihren Augenwinkeln. Sie suchte in ihrer Tasche nach Taschentüchern und hatte den Brief zwischen den Fingern, bevor sie welche fand. Dieser Brief, was konnte der bedeuten?
»Wenn ich doch mit dir sprechen könnte,