»Stellen Sie keine überflüssigen Fragen – beeilen Sie sich!«
Schwester Laurie, deren Nachtdienst in der Aufnahme in wenigen Minuten zu Ende ging, zuckte zusammen, sagte aber nichts mehr, sondern drückte den Knopf mit dem Notruf.
Unmittelbar darauf setzte die rennende Bewegung ein, die so eingespielt war wie das tickende Räderwerk einer Uhr, welches die verrinnenden Sekunden in ihrer Entscheidung über Leben und Tod deutlich machten.
»Ich bin Dr. Mettner, diensthabender Arzt – sind Sie der Vater?« Der große schlanke Arzt stellte die Frage, die im Moment wichtiger war, als der Name, wenn es um die sofortige Zustimmung zu lebenserhaltenden Behandlungen ging. Gleichzeitig half er dem Pfleger, das Kind auf die eilig herangefahrene Liege zu betten.
Richard Bremer, den diese Frage vor Jahren schon einmal getroffen hatte, fühlte die Anspannung wachsen, während er auf das blonde Kind schaute, im hellen Licht der Aufnahme schrecklich anzusehen.
Er schüttelte mühsam den Kopf. »Ich habe ihn gefunden.«
»Gut – warten Sie hier!« Dr. Mettner folgte dem Pfleger, der sich anschickte, das Kind in das Untersuchungszimmer zu fahren.
»Ich werde hier nicht warten!« Richard Bremers Stimme war von der Autorität, die der ganze Mann ausstrahlte, und er folgte dem Kind, als sei er für alles, was mit ihm geschah, verantwortlich.
»Aber Herr…?« Der dienstbereite Arzt sah ihn erstaunt an.
»Bremer.«
»Herr Bremer, es ist nicht üblich, daß…«
»Das interessiert mich nicht, Doktor! Rufen Sie sofort den Chefarzt!«
»Liegt Ihnen nun das Kind am Herzen – oder wollen wir für die Erste Hilfe erst über kompetente Leute reden?« Dr. Mettner, nun ärgerlich, beugte sich über das Kind, um Herz- und Kreislauftätigkeit zu überprüfen.
»Sie können mir glauben, ich fordere schon die Fachkollegen auf, hier zu erscheinen, wenn es nötig sein sollte!«
Richard Bremer maß den Arzt mit Blicken, die dieser nur schwer verstehen konnte. »Ich fordere Sie zum letztenmal auf, Dr. Martens herbeizubeordern!«
Das Stethoskop lag auf der freien Brust des Kindes, wanderte von Punkt zu Punkt, bevor der Arzt mit mühsamer Höflichkeit sagte: »Ich hoffe, Sie gestatten mir wenigstens, dem Kleinen zuvor noch eine kreislaufstärkende Injektion zu geben?«
Richard Bremer wischte sich mit der großen Hand über die Augen. Es war ihm egal, welchen Eindruck er auf diesen Arzt machte, er wollte das Schicksal wenigstens diesmal bezwungen sehen, indem dieses fremde Kind sein Leben weiterleben durfte.
Als Dr. Martens, leitender Arzt und Chirurg dieses Hauses, wenig später erschien, erkannte er Richard Bremer sofort und verstand ohne viel Worte, worum es diesem Mann ging.
»Ausgerechnet Sie finden wieder so ein Kind – wie sich die Bilder gleichen«, sagte er und reichte dem Baustoffhändler die Hand.
Dann wandte er sich dem Jungen zu, der nun ausgezogen dalag. »Der Kopf sieht schlimm aus«, murmelte es, als seine Hände ihn abtasteten. Er sah Dr. Mettner an. »Wir müssen zuerst röntgen, veranlassen Sie das bitte. Eine Schädelfraktur ist nicht auszuschließen.«
Und während das Kind hinausgerollt wurde, nahm der Arzt Richard Bremer beim Arm. »Kommen Sie«, sagte er, als dieser zögerte, »Sie wissen, daß hier alles getan wird.«
Mit knappen Worten schilderte Richard Bremer, wo und wie er das Kind gefunden hatte, und Dr. Martens hörte ihm aufmerksam zu.
»Die Verletzungen sehen nicht so aus, als seien sie durch das Kettenfahrzeug erfolgt«, meinte der Arzt. »Wenn er unter das laufende Fördergerät geraten wäre – nun ja, Sie wissen selbst, was von ihm dann noch übriggeblieben wäre…«
Richard Bremer biß die Zähne aufeinander, und die Haut spannte über den Wangenknochen. »Es ist wie ein Alptraum«, murmelte er, »es ist wie ein schrecklicher Alptraum.«
»Sie haben keine Ahnung, wer das Kind ist?« holte Dr. Martens ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.
Richard Bremer schüttelte den Kopf.
»Das Kind muß Stunden dort gelegen haben – irgend jemand muß es doch vermißt haben!« Der Arzt erhob sich. »Ich werde gleich mal die Polizei anrufen.«
Wenig später erfuhr der leitende Arzt der Kinderklinik Birkenhain, daß es sich bei dem Jungen um den kleinen Daniel Honert handeln könnte, der seit gestern nachmittag vermißt wurde. Angeblich hatte die Polizei bereits in den späten Abendstunden im Krankenhaus nach einer eventuellen Einlieferung des Kindes nachgefragt.
Und wie Dr. Martens kurz darauf in der Telefonie erfuhr, lag die Meldung tatsächlich vor.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Herr Bremer?« fragte nun der Arzt und ahnte, wie diesem Mann zumute war.
Richard Bremer schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Doktor, tun Sie aber bitte alles für den Jungen – egal, was es kostet.« Er wandte sich zur Tür. »Wo muß ich meine Aussage machen?«
»Ich denke, die Polizei wird bald hier sein.« Der Arzt reichte dem Mann die Hand. »Mich entschuldigen Sie jetzt bitte, ich werde mir die Röntgenergebnisse einmal ansehen.«
Richard Bremer nickte und verließ zusammen mit dem Chefarzt den Raum. »Ich werde draußen warten«, sagte er und ging dann mit schweren Schritten über den Flur zurück ins Freie.
Draußen lehnte er an seinem Geländewagen und rauchte eine Zigarette. Wie schnell sich ein Tag verändern konnte! Gleich würde die Polizei hier sein und sicherlich auch die vor Sorge aufgelösten Eltern des Kindes…
Und die Beamten kamen, erleichtert nun, daß das vermißte Kind gefunden war und sie die Suche abbrechen konnten. Durch sie erfuhr Richard Bremer dann auch, daß es da keine erreichbaren Eltern gab, sondern lediglich eine herzkranke Großmutter, welche in den Morgenstunden infolge der Aufregung einen Herzanfall erlitten hatte.
Zusammen mit den Polizeibeamten fuhr er dann in die Sandgrube zurück, um zu erkunden, wie das Kind unter den Bagger geraten sein könne. Der Bericht über die Untersuchung des Falls mußte geschrieben werden, und der Sachverhalt war sehr schnell ermittelt, denn bereits auf den Findlingen fanden sich Blutspuren und weiter oben die Abbruchstelle am Hang.
»Schrecklich, sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn der Fahrer des Baggers sich morgen früh nichtsahnend auf die Maschine gesetzt hätte, um seiner Arbeit nachzugehen…«, sagte einer der Beamten und sah dem Betreiber der Sandgrube in das starre Gesicht. »Der Himmel muß Sie geschickt haben, Herr Bremer!«
»Ich hoffe, der Himmel hat auch ein Einsehen und läßt nicht alles umsonst gewesen sein…« Richard Bremer wandte sich ab.
Wenig später saß er in seinem Büro, wie an jedem Sonntag, aber seine Hände griffen ziellos nach den Geschäftspapieren. Wie unwichtig das alles war, wie unwichtig! Ein Kind rang mit dem Tod, eine herzkranke Großmutter war in den Nachtstunden durch die Hölle gegangen – und eine ledige Mutter war in New York ohne die geringste Ahnung von dem, was geschehen war! All das wußte er von den Polizeibeamten.
Eine Stunde später war er wieder in der Klinik. Trauma, Pflicht und eine Art übernommener Verantwortung trieben ihn wieder her und ließen ihn stundenlang ausharren, bis Dr. Martens die Operation beendet hatte.
Frau Dr. Hanna Martens, die Schwester des Chirurgen und zweite verantwortliche Leiterin der Kinderklinik, setzte sich eine Weile zu dem einsam ausharrenden Mann. Auch sie kannte seine Geschichte, die ihn vor Jahren zum unglücklichsten Mann weit und breit gemacht hatte.
»Wird er durchkommen, Frau Doktor?« fragte er mühsam und blickte der blonden Ärztin für Kinderheilkunde in das freundliche Gesicht, das beruhigend auf ihn wirken sollte.