Die Transportfahrzeuge, die das Gelände an den Wochentagen unablässig anfuhren, standen heute wie stille graue Riesenelefanten hinter der mannshohen Mauer.
Sonntag hieß für ihn, einen Kontrollgang über das Gelände mit anschließenden Büroarbeiten, zu denen er aus Zeitmangel unter der Woche nicht kam. Hilde Kern, seine Bürokraft, arbeitete ihm zwar gut zu, aber es galt Entscheidungen zu treffen, die er nun mal als Chef der Firma alleinverantwortlich zu vertreten hatte.
Die Firma war seit Jahren sein Leben, und ihr galt sein Denken – das Leben der Leute, die für ihn arbeiteten, eingeschlossen. Er trug gern Verantwortung und stellte sich auch allen damit zusammenhängenden Problemen.
Das Licht stieg stetig, und Richard Bremer stellte die leergetrunkene Tasse in das Abwaschbecken, bevor er durch den Küchenausgang in den Garten hinaustrat. Und während er seine Schritte über den gepflegten Rasen auf das Tor in der Mauer zubewegte, blieb das weiße Wohnhaus wie eine stille Oase hinter ihm zurück, zu still für den familiären Charakter, den es ausstrahlte.
Das kleine Bürogebäude lag gleich hinter der Mauer, und er schloß die Tür auf, um als erstes zu sehen, ob gestern nachmittag während seiner Abwesenheit noch etwas angefallen war, was er wissen mußte.
Auf seinem Schreibtisch lag dann auch neben den von Hilde Kern fein säuberlich zurechtgelegten Arbeiten, die er heute zu erledigen hatte, ein Zettel Hänschen Krümels, auf dem zu lesen stand: Chef, Ottos Laster liegt mit Motorschaden in der Grube, wir müssen für die Fuhren nach Celle am Montag umdisponieren…
Richard Bremer starrte ärgerlich auf den Zettel. Damit fielen morgen zwei Lkw aus, und sie würden für die Belieferung der Großbaustelle in Schwierigkeiten kommen. Am besten, er sah sich den liegengebliebenen Kipper draußen im Gelände erst einmal selbst an, bevor er in die Werkstatt abgeschleppt wurde.
Als Richard Bremer schließlich von der Landstraße in das offene Heidegelände abbog, begann der private Transportweg, den er hatte anlegen lassen, damit die mit Sand schwerbeladenen Wagen, die aus der Grube heraufkamen, unbeschadet ihren Weg nehmen konnten.
Auf dieser schmalen befestigten Zufahrt fuhr er bis dicht an die Schräge heran, die in einem sanften Bogen in die Grube hinabführte. Dann hielt er an.
Ein prüfender Blick glitt aus der Höhe über das weite Abbaugebiet, bevor er sich auf den Weg machte, um sich den Laster unterhalb der Auffahrt anzusehen. Er hatte sein Leben lang mit Maschinen zu tun gehabt und kannte sich aus. Aufmerksam betrachtete er gleich darauf das Innenleben des grauen Riesen, überprüfte alle Leitungen und Anschlüsse – fand aber nicht den Fehler. Ärgerlich verschloß er schließlich wieder das Fahrzeug und begab sich auf seinen Inspektionsgang zu den Fördermaschinen.
Der Abbau des Sandvorkommens erfolgte zur Zeit am entgegengesetzten Ende der Grube, dort wo der mächtige Bagger unterhalb der steil abgebrochenen Wand stand. Und da er einmal hier war, führte ihn sein Weg zu einem Kontrollgang durch die ganze Weite des Gebiets.
Als er den mächtigen stählernen Koloß endlich erreichte, ging er um ihn herum, die Augen prüfend auf Zustand und Technik gerichtet. Und da ein Blick von unten oft mehr zeigte, als die stählerne Verkleidung von oben erkennen ließ, stützte er ein Knie auf den Boden, um einen Blick unter das Fahrzeug zu werfen.
All das geschah automatisch, und während er den Kopf bis nahe zum Boden hinabbeugte, eine Hand am Fahrzeug, die andere auf der Erde, erstarrte er augenblicklich in dieser Haltung, als hielte ihn ein unglaubliches Entsetzen für alle Zeiten in dieser Stellung fest.
Richard Bremer schloß sekundenlang die Augen, von schmerzvollen Bildern heimgesucht, und diese ließen ihn einen Moment auch an eine Täuschung der Sinne glauben, so sehr glichen sich die Bilder.
Das Kindergesicht aber, blutüberströmt und still gegen die Kettenkufen des Fahrzeugs gelehnt, war real, wie auch Erinnerungen real sein können, wenn sie einen nie mehr verließen. Bis er klar denken konnte, vergingen Augenblicke, die gleich einem furchtbaren Alptraum sein Innerstes auseinanderzureißen schienen.
Wie ein rasch ablaufender Film tauchte wieder jener Morgen vor seinem geistigen Auge auf, als er seinen kleinen Sohn so gesehen hatte – blutend, die blonden Haare verklebt, leblos.
Der Mann Richard Bremer schien im Moment zweigeteilt. Und während der eine Teil in ihm unter diesem furchtbaren Schock stand, funktionierte der andere wie eine seiner Maschinen.
So streckte er sich automatisch lang auf dem Boden aus und schob sich unter den Bagger, mühsam vorwärtsrutschend in dem flachen Spielraum zwischen Erdboden und Fahrzeug.
Als seine Hände nach dem Kleinen griffen, registrierte er lediglich, daß er zwischen den Ketten frei lag, denn noch beherrschte ihn die schreckliche Annahme, daß das Kind unter das laufende Fahrzeug geraten sein könne und sich seine Verletzungen von daher zugezogen hatte.
Und während er eine Hand vorsichtig unter den Kopf des Jungen schob und mit der anderen den kleinen Körper umfaßte, bewegte er sich langsam zurück.
Das Wasser rann ihm von der Stirn, als er ihn im grauen Licht des Morgens endlich frei hatte und nun schwer atmend in das stille Kindergesicht blickte, das so blaß und fern und ohne jede Hoffnung sich seinen Augen darbot. Seine großen Hände zitterten, als er nach der Halsschlagader tastete, und nur mühsam fühlte er das flatternde Leben, das noch in dem Kleinen zu stecken schien.
Richard Bremer zog seine Jacke aus und breitete sie auf dem Boden aus. Dann hob er vorsichtig das Kind darauf und wickelte es darin ein, so daß nur noch das helle Gesichtchen mit den verkrusteten Blutspuren hervorschaute. Darin hob er das leichte Bündelchen hoch und trug es auf seinen Armen durch den weiten Grund der Sandgrube.
Jeder seiner weit ausholenden Schritte war bemüht, die vorwärtsdrängende Eile ohne Erschütterungen für den kleinen zerschundenen Körper zu vollziehen.
Alles schien sich zu wiederholen, was er vor Jahren erlebt und erlitten und nie verwunden hatte. Dieses verletzte Kind, ihm fremd und unverständlich an seinem Fundort, machte deutlich, daß es Dinge gab, die man nie bewältigte.
Genauso hatte er damals seinen Sohn getragen, befreit aus einem völlig zertrümmerten Wagen, den seine Frau gefahren hatte. Er merkte, wie ihn die alte Panik überkam, so sehr glichen sich die Bilder. Seine Schritte waren schneller geworden, und er nahm die Schräge atemlos, bis er den oberen Rand der Grube erreichte und das Kind schwer atmend auf den Rücksitz des Landrovers legte.
Das kleine Gesicht war still. Herrgott, zu still, und der mächtige hochgewachsene Mann, der nie hilflos wirkte, fuhr sich nun fassungslos über das Gesicht, so, als könnten die großen Hände etwas fortwischen, was nicht fortzuwischen war. Dann zwang er sich zur Ruhe und setzte sich ans Steuer seines Wagens.
Der Tag, leer begonnen, hatte sich auf schreckliche Weise gefüllt.
*
Die Kinderklinik Birkenhain lag in jenem stillen sonntäglichen Morgenlicht, das alles friedlich stimmte und mit dem Hauch der Verzauberung umgab, der alten Schlössern eigen ist. Aber dieses Heideschlößchen, umgeben von Birken und stiller Natur, beherbergte schon lange nicht mehr das adlige familiäre Glück, sondern bot sich nach einem Umbau als Kinderklinik dar mit gutem Ruf.
Das Örtchen Ögela in der Lüneburger Heide diente als Bezugspunkt, wollte man die Klinik im Schloß finden, um dort Hilfe und Hoffnung zu suchen.
Der Mann, dessen Wagen nun vor dem stillen Birkenschlößchen anhielt, verharrte einen Moment, als sei es für ihn unzumutbar, dieses Haus noch einmal zu betreten. Der Erinnerungsschmerz drückte ihn zu Boden, nachdem er jahrelang den Anblick dieser Kinderklinik gemieden hatte, obwohl man hier damals alles getan hatte, um das Leben seines Sohnes zu retten.
Der persönliche Schmerz dieser frühen Morgenstunde aber wurde zwingend durch dieses fremde Kind verdrängt, das dringend Hilfe brauchte. Und wie ein Hilfesuchender die Hoffnung in sich trägt, so trug Richard Bremer jetzt den kleinen Jungen in großer Eile in das noch stille Haus.
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