Else Honerts Blicke schweiften über die stille Weite der Heidelandschaft, ihr teils flaches und auch wieder welliges Auf und Ab, das scheinbar kein Ende nahm. Sie war ein wenig erschöpft und schaute sich nach einem schattigen Plätzchen unter den vereinzelt stehenden Birken und Kiefern um.
»Was meinst du, wollen wir jetzt unser Picknick einlegen?« fragte sie und schaute auf den blonden Lockenkopf ihres Enkels hinab.
Daniel ließ augenblicklich von der Beobachtung der Bienen ab und nickte begeistert, während er sein lebhaftes Jungengesicht zu ihr emporhob.
»Schau, setzen wir uns dort drüben in den Schatten«, sagte sie und zeigte auf eine Birke, deren Zweige so ausladend waren, daß ein Verweilen unter ihr ein wenig Kühle verhieß.
Daniel, ein neues Ziel vor Augen, rannte los, während Else Honert einen Moment die Hand aufs Herz legte. Und bevor sie ihm nun langsam folgte, rief er bereits: »Komm, Omi, schnell! Hier sind auch Kaninchenlöcher!« Er lag bereits auf seinen braunen Knien, um einen Blick in die Tiefe der kleinen dunklen Höhlen zu erhaschen.
»Keine da!« stellte er kurz darauf enttäuscht fest, als auch sie herangekommen war. Das Herz machte ihr bei der Witterung zu schaffen, und als die leichte Decke unter der Birke einladend ausgebreitet lag, ließ sie sich erleichtert darauf nieder und streckte die Beine aus.
»Ich habe Durst, Omi«, sagte Daniel und setzte sich neben sie. Seine Aufmerksamkeit galt jetzt dem Leinenbeutel, der die Safttüten und Kuchenstückchen enthielt.
»Ja, ich auch«, lächelte sie, »jetzt werden wir uns erst einmal stärken.« Sie streichelte seine erhitzten Bäckchen und entnahm dann dem Beutel die Köstlichkeiten.
Daniel schien ganz dem Glück der Stunde hingegeben, während er genüßlich den Saft mit dem Strohhalm aus der Papptüte sog.
»Nicht so hastig«, mahnte sie, vernahm aber bereits die Geräusche, die besagten, daß die Tüte leer getrunken war.
»Wo sind die Kaninchen?« fragte er dann und behielt die kleinen Bodenlöcher im Auge.
»Sie werden so wie wir unterwegs sein und da draußen irgendwo ein Picknick halten.«
»Soll ich mal nach ihnen suchen?« Else Honert schüttelte den Kopf. »Jetzt iß erst einmal deinen Kuchen.«
»Was essen die Kaninchen?«
»Ich denke, Gras und Klee.« Else Honert nahm nach der Stärkung das Hütchen vom Kopf und legte sich ein wenig auf die Decke zurück.
Daniel tat es ihr erst nach, und sie lächelten einander zu. Dann sah er in den hohen blaßblauen Himmel, aber bis auf einige vorüberfliegende Vögel war da nicht viel zu sehen, und er richtete sich wieder auf.
Die Löcher im Boden waren da weitaus aufregender, und er fieberte dem Auftauchen eines Kaninchens entgegen. Ob er sich doch einmal nach ihnen umsah? Er schaute zu seiner Omi hin, und als er bemerkte, daß sie die Augen geschlossen hatte, hielt es ihn nicht länger auf der Decke, und er stand auf und ging leise davon.
Ratlos sah er eine ganze Weile auf die Kaninchenbauten, bevor seine Augen die Tiere in der Weite der Heide zu entdecken versuchten.
Das flirrende Licht spiegelte ihm allerlei scheinbare Bewegungen vor, und er folgte schließlich diesen Verlockungen, wie ihnen nur ein kleiner Junge folgen kann, dessen abenteuerliche Entdeckerfreude keine Grenzen kannte.
So lief er von Punkt zu Punkt, und als nach einer Weile tatsächlich eines der Hoppeltiere aufsprang und in munteren Sätzen davonlief, kannte seine Aufregung keine Grenzen mehr, und er drang weiter und weiter in die Heide vor.
Zeit und Entfernung waren in seinem Alter unbekannte und schwer abschätzbare Dinge, und wenn er sich dann und wann umwandte, schien ihm immer die nächststehende Birke die zu sein, unter der seine Omi gerade schlief.
Das leuchtende Warnschild am steil abfallenden Abbruchrand einer Sandgrube erregte zwar seine Aufmerksamkeit, erfuhr aber nicht seine Deutung, da er noch nicht lesen konnte Das »Betreten verboten – Abräumgebiet!« erreichte ihn daher nicht als Warnung, sondern lediglich als eine hochstehende Tafel, weithin sichtbar und ganz und gar ungefährlich.
So lief er über diese Warnung hinaus und stand kurz darauf am brüchigen Rand der Grube, um aus der Höhe in eine unverhoffte Tiefe zu sehen, die sich in einem weiten auslaufenden Becken bis an den gegenüberliegenden Horizont zu erstrecken schien.
Das Ganze wäre nun gar nicht so interessant für Daniel gewesen, wenn nicht in der Tiefe des Abbaugebiets diese aufregend mächtigen Fördermaschinen gestanden hätten.
Aus schwindelnder Höhe erblickte er direkt unter sich einen Schaufelbagger, der so viel faszinierender als sein eigener kleiner Spielzeugbagger war, der bei Omi im Vorgarten lag, und mit dem er ihre Blumenbeete ruinierte.
Aber das mächtige Ungetüm dort unten stand still, und die anderen Fördergeräte ebenfalls, wie er aufmerksam registrierte – bis hin zu dem Lastwagen, der in der Entfernung schon klein wirkte.
Daniel sah eine ganze Weile ratlos erstaunt auf das stille weite Tal, auf die ruhenden Maschinen, denn mit dem Begriff »Wochenende« konnte er nichts anfangen.
Dann kehrten seine Blicke voller Faszination zu dem Bagger zurück.
Ob er sich das Ding einmal aus der Nähe ansah? Der Wunsch ließ seine Bäckchen rot werden vor Aufregung, als er das dachte und sich dem Abbruchrand bis zur äußersten Kante näherte. Und so wenig er in seinem Alter Entfernungen abzuschätzen vermochte, so wenig erkannte er die gefährliche Höhe, als er sich entschloß, hinunterzuklettern.
Ratlos versuchte er eine Weile unter den überhängenden Gras- und Heidekrautbüscheln die ideale Stelle zu finden, ließ dabei aber als Fixpunkt den mächtigen Bagger nicht aus den Augen.
Die Grasnarbe, auf die er schließlich seine kleinen Füße setzte, war gezackt abgerissen über bloßliegenden Erdreichschattierungen und brach in dem Moment weg, als sein ganzes Gewicht darauf stand.
Er fiel nicht nach hinten, was ihn vielleicht rutschend nach unten gebracht hätte, sondern stürzte kopfüber in die Tiefe.
Der mächte Schaufelbagger, zu dem er gewollt hatte, fing ihn schließlich auf und ließ ihn bis unter seinen mächtigen stählernen Panzer rollen, wo der kleine zerschundene Körper endlich zur Ruhe kam.
Den blonden Lockenkopf gegen das Eisen gelehnt, blieb das Gesicht Daniels still, weich und wie schlafend – dem erträumten Ungetüm jetzt so nah und doch so fern…
*
Die Sonne stand tief, als Else Honert erwachte und eine Weile in den Himmel sah, bevor sie wußte, wo sie war.
Nun wandte sie den Kopf ein wenig zur Seite, aber der Platz neben ihr war leer. Etwas steif vom langen Liegen auf dem harten Boden richtete sie sich auf, griff automatisch nach dem Strohhut und setzte ihn gedankenlos auf die weißen Löckchen.
»Daniel!«
Der Ruf war nicht sehr laut, und Else Honert schaute suchend in alle Richtungen. Sie erkannte, das Licht hatte sich verändert, war jetzt nicht mehr flirrend, sondern ruhig und klar. Erst jetzt sah sie auf ihre Armbanduhr und erschrak.
»Oh, Daniel!« rief sie nun erschrocken und lief auf ein wenig zittrigen Beinen ratlos eine Weile im Kreis. Dabei strich sie den Rock glatt, wie Frauen es automatisch tun, und blickte suchend über die friedliche Landschaft. Wie konnte sie nur so lange schlafen!
Aber von ihrem Enkelsohn war weit und breit nichts zu sehen. Das Gelände war übersichtlich, und wenn er in der Nähe gewesen wäre, so hätte sie ihn sehen müssen.
Mit großer Anstrengung rief sie wiederholt seinen Namen, ohne daß ein Gegenruf sich einstellte – oder das leuchtend blonde Kind zwischen den Büschen aufgetaucht wäre.
Ratlos