Die nächsten Wochen verliefen für Julia Grundmayr ruhiger, als sie erwartet hatte. Alle Helfer auf dem Hof unterstützten sie. Langsam, aber auch nur ganz langsam, gewöhnte sich Julia an das Alleinsein. Tante Julia kam oft für ein paar Stunden am Nachmittag zu Besuch. Dann gingen die beiden Frauen zum Friedhof und hielten stille Zwiesprache mit dem verstorbenen Bruder und Vater.
»Julia!« sprach sie ihre Tante eines Tages an. »Julia! Du lebst in einem Museum.«
Die junge Frau bekam große Augen.
»Wie – wie meinst du das, Tante Else?«
Sie gingen vom Friedhof heimwärts. Tante Else ergriff Julias Arm, hakte sich unter und zog das Madl an sich heran.
»Wie ich das meine? Das erkläre ich dir gerne! Also, höre mir bitte gut zu! Ich muß da ein bisserl ausholen!«
Else Grundmayr gab ihrer lieben Nichte eine Lektion in Sachen Tradition. Wenn ein Hof zu Lebzeiten des alten Bauern an seinen Sohn übergeben wurde, dann zog sich der alte Bauer auf das Altenteil zurück. Das Haus, was er vielleicht auch noch mit seiner Frau bewohnt hatte, wurde ausgeräumt, damit die nächste Generation dort einziehen und sich nach ihren Wünschen einrichten konnte. So war nun einmal die Tradition. Tante Else erzählte Julia, wie es damals auf dem Grundmayr Hof war, als sich Julias Großeltern auf das Altenteil zurückzogen. Else lebte vorher als unverheiratete Tochter mit im Haushalt der Eltern, den diese ja dann räumten. Also war sie auch ausgezogen, um Julias Eltern und der kleinen Julia die Räume zu überlassen. Else hatte auf dem Hof eine andere Wohnung bezogen.
Julia war damals noch zu klein, um sich daran zu erinnern. Sie erinnerte sich nur, daß sie ein schönes, neues Zimmer bekommen hatte, mit einem Himmelbett und lustigen Tapeten mit Luftballons.
»Ja, das war dein neues Zimmer, Julia! Vorher wohnte ich darin. Jetzt hör mir weiter zu.«
Else Grundmayr schlug dann den Bogen bis zu dem Augenblick, als sie nach dem Tod ihres Vaters ausgezogen war. Mit dem Erbe kaufte sie sich in der Stadt ein Haus und lebte für sich.
»Ich richtete mich ein, wie es mir gefällt. Es war wunderbar.«
Tante Else vermittelte, daß es an der Zeit war, Urbans Sachen wegzupacken. Die Kleider könnte sie verschenken. Julia sollte alles leeren. Alle Zimmer. Sie sei die Erbin. Es sei ihr Hof, ihr Haus, ihr Heim.
»Einen Neuanfang zu schaffen, ist auch eine notwendige Trauerarbeit, Julia! Du kannst dich nicht davor drücken. Erinnerungsstücke, die dir wichtig sind, die kannst du ja behalten. Von allem anderen solltest du dich trennen. Lebe nicht weiterhin in einem Museum!«
Der Wind strich über die gelben Rapsfelder. Schweigend gingen die beiden Frauen nebeneinander her. Else Grundmayr ließ Julia viel Zeit, über das Gesagte nachzudenken.
Erst wehrte sich alles in Julia gegen den Gedanken, etwas auf dem Grundmayr Hof zu verändern. Doch ganz allmählich stand sie der Anregung ihrer Tante etwas wohlwollender gegenüber. Tante Else hatte nicht unrecht. Es ist alles noch so wie zu Vaters Lebzeiten. Wenn ich abends im Wohnzimmer über meiner Stickarbeit sitze, dann vergesse ich oft, daß er jetzt nicht jeden Augenblick ins Zimmer kommt. Es ist immer noch sein Haus, seine Einrichtung und die meiner Mutter.
»Ich werde es mir überlegen, Tante Else«, sagte Julia leise. »Es ist ein komisches Gefühl. Es kommt mir vor, als vertreibe ich ihn aus meinem Leben, aus meinem Herzen. Ist es denn wirklich richtig, es so zu machen?«
Julia schaute ihre Tante mit großen Augen an.
»Ja! Und noch einmal ja! Es ist wichtig für dich! Dein Vater konnte schon zu Lebzeiten seines Vater alles machen. Bei dir ist es eben so gekommen. Daran kannst du nichts ändern. Das Altenteil steht voll Gerümpel. Räume die Sachen weg! Bringe dort Sachen von deinem Vater unter. Wenn er alt geworden wäre, dann hätte er sicherlich den Altenteil bezogen.«
Tante Else schaute ihre Nichte liebevoll an.
»Du bist ihm immer ein gutes Madl gewesen. Jetzt denke ein bisserl an dich! Was meinst du? Ist das nicht ein Vorschlag zur Güte? Dann fällt es dir sicherlich nicht so schwer. Wenn du willst, dann helfe ich dir dabei. Wie ist es?«
»Willst du jetzt sofort eine Antwort?«
»Ja, Julia, die will ich! Ich habe außer dir niemanden mehr, Julia. Du hast die letzten Wochen gut gemeistert. Doch vor dir liegt noch ein ganzes Leben. Es ist dein Leben! Verbringe es nicht nur in Erinnerungen. Es wäre schade. Außerdem will das niemand. Fange mit dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer an. Dann bestellst du die Maler. Du kaufst dir eine neue Küche. Mache Pläne! Fange gleich heute damit an!«
Tante Else redete und redete. Schließlich überzeugte sie Julia. Die junge Frau versprach, die Sache in Angriff zu nehmen.
Gemeinsam gingen sie zurück zum Hof. Sie schauten sich zusammen den Altenteil an. Tante Else nahm die Sache in die Hand. Sie überrumpelte Julia damit. Sie trommelte alle Helfer auf dem Hof zusammen und ließ den gesamten Altenteil ausräumen. Alle Dinge kamen in den Schuppen. Während die einen noch die Sachen schleppten, ließ Tante Else von anderen Helfern die Wände bereits weiß streichen. Weiße Farbe gab es auf dem Grundmayr Hof mehr als genug. Julias Vater hatte immer einen großen Vorrat an Farbe. Er liebte es, wenn alles schön sauber und hellgestrichen war.
Nach zwei Stunden war alles leer und frisch gestrichen. Tante Else nahm Julia an der Hand. Sie gingen ins Haus. Nach weiteren zwei Stunden waren die Lieblingsmöbel ihres Vaters im Altenteil aufgestellt. Der Rest des Schlafzimmers, des Eßzimmers und des Wohnzimmers schleppten die Helfer bis nachts in die Scheune.
Zum Schluß türmten sich in den Räumen nur noch Körbe, Truhen und Tüten mit Kleinzeug.
»So, das kannst du morgen auch in die Scheune bringen lassen. Dort hinten kann es erst einmal stehen. Die Scheune ist groß genug. Du kannst später entscheiden, was damit geschehen soll. Jetzt kümmerst du dich erst einmal um dich! Tue nur, was dir gefällt, was für dich wichtig ist.«
Tante Else schloß Julia fest in die Arme.
»So, Madl! Das war es! Das war es für heute! Der erste Schritt ist getan. Es ist spät. Ich fahre jetzt heim. Wir sehen uns die nächsten Tage. Ich hoffe, du kommst. Dann gehen wir zusammen einkaufen.«
Julia lächelte. Sie war müde. Es war alles etwas viel gewesen. Doch sie war froh, daß ihre Tante ihr so viel Druck gemacht hatte. Alleine hätte sie es wohl nicht so schnell angepackt. Zu groß war die Scheu davor gewesen.
Nachdem Else Grundmayer abgefahren war, wanderte Julia alleine durch die möbellosen Räume.
»Sollen wir dir noch etwas helfen, Julia?«
Die Männer standen bei der Tür im Wohnzimmer.
»Morgen müssen diese ganzen Sachen noch in die Scheune. Danke, daß ihr so lange geholfen habt.«
»Morgen noch einmal damit anfangen? Naa!« sagte der alte Knecht, der am längsten auf dem Hof war.
Er ging auf Julia zu und drückte sie auf einen Hocker, der vergessen in der Ecke stand.
»Sitzen bleiben! In einer halben Stunde sind wir auch damit fertig!«
Die Männer spannten einen Rollwagen an den Traktor. Damit hielten sie direkt vor dem Haus. Sie bildeten eine Kette und reichten alles Kleinzeug aus dem Fenster. Es ging einfach ruck zuck! Anschließend schoben sie den Wagen rückwärts in die Scheune.
»Den laden wir morgen früh ab!«
Julia stand auf und brachte selbst den Hocker in die Scheune. Sie dankte den Männern und wandte sich um. Sie ging ein paar Schritte, dann kam sie zurück. Auf dem Wagen lag die Familienbibel. Julia klemmte sie unter den Arm. Die will ich auch in den Altenteil bringen, dachte Julia. Das wollte sie am nächsten Morgen gleich tun. So nahm sie das dicke Buch mit in ihr Zimmer.
Müde von dem langen Tag, legte sich Julia erst einmal mit den Kleidern auf das Bett. Sie wollte sich nur einen Moment ausruhen, bevor sie eine Dusche nahm. Doch sie schlief sofort ein.
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