Als sie draußen waren, setzte sich der Geistliche an den Küchentisch.
»Xaver, bring’ mir bitte einen Obstler – einen Doppelten! Den brauche ich jetzt nach dem Schreck im Pfarrhaus.«
»War es denn so schlimm?« fragte Meta.
So etwas war noch nie passiert.
Helene Träutlein war als junge Frau mit dem Geistlichen nach Waldkogel gekommen. Sie versah den Haushalt im Pfarrhaus und hielt einmal in der Woche ein Kaffeekränzchen ab.
Xaver brachte gleich die Flasche. Unter Anteilnahme hörten Xaver und Meta dem Geistlichen zu. Helene hatte das Mittagessen aufgestellt und es vergessen. Alles brannte an und es qualmte mächtig. Dabei hatte Helene nur etwas aus der Tiefkühltruhe aufgewärmt, als Ersatz für das vollwertige Mittagessen, das sie an diesem Tag bereits verdorben hatte.
»Sie muß völlig in Gedanken gewesen sein. An den Kartoffelbrei hatte sie zu viel Salz gegeben, die Rühreier gezuckert statt gesalzen, und der Salat war ihr beim Anrichten aus den Händen gefallen.«
»Mei, Herr Pfarrer! Ich bin ja ganz erschüttert! Mit der Helene muß was net stimmen. Die scheint ja mit ihren Gedanken wer weiß wo zu sein!« Metas Gesicht zeigte echte Besorgnis.
Pfarrer Zandler nickte zustimmend.
Nach dieser Ungeschicklichkeit hatte Helene eingefrorenes Essen aufgewärmt. Während der Zeit wischte sie den Küchenboden, der voller Salat und Glasscherben der großen Salatschüssel war. Obwohl die Haushälterin mitten in der Pfarrküche hantierte, bemerkte sie nicht, daß das Essen anbrannte. Pfarrer Zandler war in dieser Zeit in seinem Studierzimmer und las im Brevier. Erst als der beißende Qualm und Gestank durch das Pfarrhaus zog, wurde er auf das zweite Küchendrama an diesem Tag aufmerksam. Er stürzte in die Küche, riß das Fenster auf, holte die Töpfe vom Herd und löschte sie mit kaltem Wasser. Die erschrockene Helene Träutlein war auf ihr Zimmer geflüchtet.
»Des ist ja wirklich sehr besorgniserregend, Pfarrer Zandler, was Sie da erzählen!«
Meta setzte sich erschüttert an den Küchentisch.
»Daß die Helene so wirr im Kopf ist, des kann ich mir gar net vorstellen!« Meta Baumberger schüttelte den Kopf. »Ja, ist den etwas vorgefallen? Ist sie vielleicht krank?«
»Naa, des glaube ich net. Alles ist wie immer! Bis auf die Sache, daß sie schon seit einigen Tagen ein bisserl verdreht ist!«
»Da muß was geschehen!« stellte Meta fest.
Sie stand auf und servierte dem Geistlichen erst einmal ein Mittagessen. Dann packte sie eine weitere Portion ein und machte sich sofort auf den Weg zum Pfarrhaus. Meta Baumberger war mit Helene befreundet. Sie wollte selbst sehen, was mit der Freundin los war. Helene Träutlein war eine freundliche und hilfsbereite Frau. Jetzt schien sie selbst Hilfe zu brauchen.
In der Not gehen tausend Freunde auf ein Lot. So lautete das alte Sprichwort, an das Meta Baumberger auf dem Weg zu Helene dachte. Sie nahm sich vor, ihr zu helfen. Wenn es sein mußte, dann würden alle Frauen in Waldkogel zusammenhalten und Helene beistehen. Da war sich die Baumbergerin sicher.
*
Weit außerhalb von Kirchwalden, aber noch auf dem Gebiet, das zur Stadt gehörte, lag der schöne Grundmayr Aussiedlerhof. Es war ein sehr großer und gepflegter Hof, der wie eine weiße Trutzburg inmitten saftiger Wiesen und gelber Rapsfelder stand.
Das große Tor an der Südseite war offen. Dort heraus bewegte sich unter den Klängen eines Trauermarsches der Leichenzug. Die Bläser schritten voran, gefolgt von dem Schützenverein und dem Gesangverein. Dahinter lag auf einem flachen mit Tannengrün ausgelegtem Wagen der Sarg mit dem Leichnam des Bauern Urban Grundmayr. Dem Sarg folgte schwarzverhüllt sein einziges Kind, die fünfundzwanzig-jährige Julia. Neben ihr schritt ihre Tante Else, die Schwester ihres Vaters. Der schwarze Schleier ließ auch bei ihr keinen Blick zu. Die Hände fest um Gesangbuch und Rosenkranz geschlungen, schritten die beiden Frauen mit gesenktem Kopf hinter dem Sarg her. Es folgten weitere Verwandte und Freunde.
Langsam bewegte sich der Zug durch die Felder bis zum alten Friedhof, auf dem die Familie seit Jahrhunderten eine große Grabstätte hatten. Deshalb konnte Julia ihren Vater dorthin zu Grabe tragen und er wurde nicht auf dem neuen Friedhof auf der anderen Seite von Kirchwalden beigesetzt.
Für Julia war es ein schwerer Gang. Nachdem sie ihre Mutter vor einigen Jahren zu Grabe getragen hatte, folgte ihr nun der Vater. Urban Grundmayr war vom Pferd gestürzt und sofort tot gewesen. Warum das sonst so ruhige Pferd plötzlich gescheut hatte, konnte sich niemand erklären.
Mit großer Tapferkeit überstand die junge Erbin die Beerdigung. Sie schüttelte viele, viele Hände. Einige kannte sie. Andere waren ihr völlig unbekannt. Ganz gleich wie, alle wollten Julia in ihrer Trauer trösten.
Der Leichenschmaus fand danach im Innenhof des Grundmayrschen Besitzes statt. Die Trauergäste blieben nicht lange. Sie wollten Julia schonen. Die junge Frau sah so blaß und erschöpft aus, während der Totenwache war die junge Frau nicht vom Sarg gewichen.
Als Julia den letzten Trauergast am Tor verabschiedet hatte, ging sie in den Garten. Dort setzte sie sich unter dem Apfelbaum auf die Bank.
Sie saß eine ganze Weile dort und überdachte ihr Leben, wie es war und wie es künftig sein würde. Der Hof fiel an sie. Sonst gab es keine Erben. Der Hof war schuldenfrei. Auf dem Bankkonto lag eine beträchtliche Summe an Bargeld. Daneben hatte Vater ihr noch Besitz in Wertpapieren und Sparanlagen hinterlassen. Julia war jetzt froh, daß ihr Vater nach dem Tode seiner Frau sie in alle geschäftlichen Dinge einbezogen hatte. So wußte sie über alles Bescheid.
Julia würde keine Geldsorgen haben. Sie hatte von ihrem Vater wirtschaften gelernt. Der Hof mit seinen großen Ländereien, der Hühnerfarm, der Schweinezucht und dem Viehbestand warf jedes Jahr Gewinn ab.
»Es wird schon weitergehen, Madl!« sagte eine Stimme neben ihr.
»Ich habe dich gar nicht kommen gehört, Tante Else!«
»Das habe ich bemerkt! Bist mit den Gedanken weit fort gewesen.«
»Ganz so weit war es nicht! Ich habe über den Hof nachgedacht. Es wird hart werden ohne den Vater. Ich bin ihm dankbar, daß er mir alles gezeigt hat. Ich werde einfach so weiterwirtschaften, wie er es gewollt hat.«
»Das ist ein guter Entschluß! Genug Leute hast du ja! Mein Bruder war kein Ausbeuter. Er hat die Kräfte auf dem Hof immer ordentlich bezahlt. So hatte er nie Probleme. Viele sind schon über Jahre da.«
Die Tante nahm Julias Hand.
»Ich habe mit allen gesprochen, Julia. Sie werden alle dableiben und dir helfen. Mußt dich erst mal um nichts kümmern. Gönne dir ein paar ruhige Tage. Lebe deine Trauer aus. Laß die Tränen fließen. Das ist das Beste, was du machen kannst, Julia!«
Mit Tränen zwischen den Wimpern schaute Julia ihre Tante an.
»Du weißt, daß mir das Nichtstun nicht liegt. Ich werde schon klarkommen, Tante. Arbeit ist die beste Medizin, sagte Vater immer, wenn er mal wieder das Reißen im Kreuz spürte. Gut, daß alle bei mir bleiben. Aber um die Verwaltung muß ich mich selbst kümmern.«
Ihre Tante legte den Arm um Julia.
»Ich kann ein paar Tage bei dir bleiben, wenn du willst?«
Julia überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Sei mir nicht böse, daß ich dein Angebot ablehne. Ich will dir damit nicht weh tun. Ich weiß, wie traurig und erschüttert du bist. Immerhin war mein Vater dein einziger Bruder. Jetzt hast du auch niemanden mehr.«
Mit wohlgewählten Worten versuchte Julia, ihrer Tante zu erklären, daß sie denke, es sei das Beste, wenn sie sich so früh wie möglich in das Leben alleine auf dem Hof einfinden würde. Sie mußte sich daran gewöhnen. Das versuchte Julia zu erklären. Dabei hatte sie ein schlechtes Gewissen, der Tante gegenüber.
»Ich habe dich immer lieb gehabt, Julia!