Parallel leben. Sebastian Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sebastian Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863911928
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      Ich beendete das Seminar eine halbe Stunde zu früh.

      Am Nachmittag saß ich allein im Wohnzimmer auf dem Sofa und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Es gab kein Seminar mehr vorzubereiten, keine Klausuren zu korrigieren, ich hatte sogar schon das Bad geputzt. Johanna war immer noch im Büro, und in einer halben Stunde musste ich Robert von der Kita abholen. Darauf freute ich mich immerhin. Draußen war es bereits dunkel, die Straßenlaternen sprangen an, in ihrem gelblichen Licht sah der Nieselregen wie schmale Bleistiftstriche in einem Comic aus. Die Tage gingen so unglaublich schnell vorbei, ich hätte sie gern festgehalten, damit sie mir nicht immer entglitten.

      Diese Ereignislosigkeit schien mir seltsam zwangsläufig. Natürlich konnte man frei wählen in der viel beschworenen westlichen Welt. Niemand zwang mich zu etwas, zumindest im sogenannten Privaten nicht. Ich hatte mich frei entschieden, Literatur zu studieren und danach zu promovieren. Trotzdem schien es mir im Nachhinein nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt. Ich hatte eben das studiert, was ich einigermaßen gut konnte, und nicht an die Zukunft gedacht. Emrald hatte mir vorgeschlagen, bei ihm eine Doktorarbeit zu schreiben, und ich hatte angenommen. So ein Angebot schlägt man schließlich nicht aus. Eine gerade Linie, die immer weiter führte, keine Widerstände, die sich mir in den Weg stellten. Zeichnete nicht die meisten Entscheidungen genau dieser Charakter der scheinbaren Zwangsläufigkeit aus? Entscheidungen widerfuhren einem. Man machte es eben, weil man es machte.

      Ich stand auf, ging in den Flur, nahm meine Jacke von der Garderobe und suchte meinen Schlüssel.

      Auch einer dieser seltsam befriedigenden Routinevorgänge: Robert von der Kita abholen. Manchmal plauderte ich mit anderen Eltern über Belangloses, während die Kinder sich ihre Schuhe anzogen. Dann der Weg nach Hause mit Robert an meiner Hand, der mir atemlos von seinem Tag erzählte. »Lars und Ayshe haben sich gestritten, bis Lars mit Bauklötzen geworfen hat, Frau Heizung ist voll ausgerastet.« So nannte er die Kindergärtnerin, die eigentlich Frau Haizing hieß, Johanna und ich übernahmen seine Bezeichnung, und ich musste immer aufpassen, sie nicht so anzusprechen.

      Ich trat auf die Straße und zog mir meine Kapuze tief ins Gesicht. Länger in Leipzig zu bleiben war im Grunde auch keine bewusste Entscheidung gewesen. Ich folgte einfach Lea. Das sollte keine Entschuldigung sein. Alles hier in Berlin hatte so wenig mit dem zu tun, was in Leipzig passiert war, dass es schien, nicht ich hätte es erlebt, sondern jemand anderes.

      Am Abend las ich Robert aus dem zweiten Band von Jim Knopf vor. Wir hatten die beiden Bücher schon einmal durch, aber er mochte sie so sehr, dass wir einfach noch einmal von vorne begonnen hatten. Das rührte mich ein wenig, denn auch ich hatte früher als Kind meine Lieblingsbücher mehrmals hintereinander gelesen, weil ich nicht aus dieser Welt auftauchen wollte, in die mich die Geschichten mitnahmen. Johanna hatte sogar schon begonnen, Robert das Lesen beizubringen, und er war mit Eifer dabei, da er Jim Knopf gern alleine lesen wollte. Doch so weit war er noch nicht.

      Natürlich las ich ihm auch aus anderen Büchern vor, ein Durchgang genügte ihm aber. Von Astrid Lindgren fand er nur Pippi Langstrumpf gut, Michel wollte er gar nicht erst anfangen. »Was ist das denn für ein komischer Name?«, war sein einziger Kommentar dazu gewesen, bevor er wieder Jim Knopf aus dem Regal hervorholte und sich in sein Bett kuschelte.

      Heute war ich nicht recht bei der Sache, und er schien es zu merken. Die einzigen Bücher, die ich noch las, waren Kinder­bücher, fiel mir auf.

      Robert sah mich mit vor Müdigkeit glasigen Augen an und fragte leise: »Bist du auch müde, Paul?«

      Ich nickte, legte das Buch beiseite und strich ihm seine braunen Haare aus der Stirn. Robert nannte mich nicht Papa. Zu seinem wirklichen Vater sagte er ebenfalls nicht »Papa«, auch ihn sprach er nur mit Vornamen an. Johanna dagegen war selbstverständlich »Mama«.

      Sie war bereits mit Robert schwanger, als wir zusammenkamen. Allerdings kannten wir uns schon länger. Meine Schwester und sie hatten an der gleichen Universität studiert, und als ich einmal Irene in Hamburg besuchte, trafen wir sie zufällig in einem Restaurant. Wir mochten uns auf Anhieb und verabredeten uns für ein Treffen zu zweit ein paar Tage später. Sie studierte damals noch, nahm es aber nicht besonders ernst, jedenfalls wirkte es so, und trieb sich die halbe Woche in den Bars auf der Schanze rum. Außerdem schrieb sie an einem Stück, es sollte sogar an einem Off-Theater aufgeführt werden, sie in der Hauptrolle, doch es kam nie dazu, weil sich das komplette Ensemble zerstritt oder so. Ich fand sie ziemlich faszinierend, vielleicht hatte ich auch etwas Angst vor ihr, denn sie schien – im Gegensatz zu mir – genau zu wissen, was sie wollte. Ich war mir sicher, dass sie einen Freund hatte – mindestens. Komischerweise hatte sie das Gleiche von mir gedacht (es stimmte bei uns beiden nicht), und so verloren wir uns aus den Augen, auch Irene und Johanna wurden erst später Freundinnen.

      Es dauerte knapp drei Jahre, bis wir uns wiedertrafen, zufällig in einer Bar, dieses Mal in Berlin, wohin sie inzwischen gezogen war. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass sie sich verändert hatte. Sie wirkte viel ruhiger, aber auch abwesend. Offensichtlich war viel passiert in der Zwischenzeit. Es dauerte eine Weile, bis ich die ganze Geschichte erfuhr. Und ich weiß bis heute nicht, ob sie mir wirklich alles erzählt hatte.

      Unsere beiden zufälligen Zusammentreffen erschienen uns als Schicksal, eine romantische Fügung, die zeigte, dass wir zusammengehörten. Was man eben so denkt, wenn man frisch verliebt ist. Schon an unserem zweiten Abend erzählte sie mir, dass sie im vierten Monat schwanger war, mit dem Vater aber nicht zusammenlebte. Mehr nicht. Ich fragte damals nicht nach – und eigentlich sprachen wir auch später kaum darüber. Seltsamerweise sei nach dem ersten Schock für sie sofort klar gewesen, dass sie das Kind bekommen wolle, hatte sie weitererzählt. Das hätte sie selbst am meisten überrascht.

      So wurde ich von einem Tag auf den anderen Teil einer Familie.

      Robert fielen die Augen zu, als ich ihn schweigend ansah. Wann er wohl die gleiche Entdeckung machen würde wie ich auf der Wanderung im Wald, fragte ich mich plötzlich. Und würde er dann mit mir darüber reden? Ich strich ihm noch einmal über die Stirn und ging ins Wohnzimmer. Johanna hatte ihren Laptop zugeklappt. Ich setzte mich zu ihr aufs Sofa und lehnte meinen Kopf an ihre Schulter.

      »Wie war dein Tag?«, fragte sie.

      »Alles wie immer. Routine. Und bei dir?«

      »Der Regisseur des neuen Hörbuchs, weißt du, das über den sexsüchtigen Mittdreißiger in Afrika, treibt mich in den Wahnsinn. Er möchte eine Art Hörspiel daraus machen und ständig Löwenbrüllen und Elefantentröten einspielen.«

      Ich sah sie skeptisch an. »Von sexsüchtig hast du bis jetzt aber nichts gesagt.«

      »Na klar. Er geht ja nur nach Afrika, weil er vor den Zuhältern in Paris fliehen muss, weil sich alle Prostituierten immer in ihn verlieben und nicht mehr arbeiten wollen.«

      Ich schüttelte den Kopf. »Das ist doch totaler Schwachsinn.« Aber sie lächelte mich nur an, und ich wusste wieder nicht, was sie dachte.

      Das erste Jahr hatten Johanna permanent Schuldgefühle geplagt, mich in etwas hineingezogen zu haben, was ich vielleicht gar nicht wollte. Ich konnte ihr noch so oft versichern, dass ich glücklich sei mit ihr und Robert. Dass ich ihn liebte wie mein eigenes Kind. Doch die Schuldgefühle verschwanden nicht. Nach Roberts erstem Geburtstag zogen wir dann in die Kreuzberger Wohnung, und es hörte einfach auf, fast plötzlich. Diese Anfangszeit, leidenschaftlich und traurig zugleich, intensiv, belastend und neu, schien nun – und eigentlich auch schon kurz danach – wie eine ferne Erinnerung, die nichts mit uns zu tun hatte.

      »Ich habe mit Emrald gesprochen«, sagte ich. Ich hatte mir nichts zurechtgelegt, aber auf einmal sprudelte es aus mir heraus. »Ich muss nächstes Wochenende wieder nach Leipzig, ich weiß, es ist nervig. Die Fachbereiche sollen anscheinend kooperieren, und ich muss da irgendetwas vorbesprechen. Emrald wälzt natürlich alles auf mich ab.«

      Sie sah mich nur an und sagte nichts. Ich wusste, dass sie der wichtigste Mensch in meinem Leben war, doch das hielt mich nicht davon ab weiterzusprechen. »Du weißt, meine Stelle hängt von ihm ab, ich kann ihm nichts abschlagen.«

      Sie schwieg