Die Universität lag nicht weit vom Bahnhof entfernt. Ich irrte durch die unübersichtlichen Gänge, bis ich schließlich einen der Räume fand, in denen die Konferenz stattfinden sollte. Es war nicht viel los, nur eine andere vermeintliche Teilnehmerin der Konferenz stand vor der Tür und starrte auf ihr Smartphone.
»Nachkriegsliteratur?«, fragte ich halblaut.
Sie sah auf und nickte undeutlich. Die halblangen braunen Haare fielen ihr über die Stirn, und sie strich sie hinter die Ohren. Ihr Gesicht wirkte auf eine seltsame Art gleichzeitig verschlossen und offen. Mir fiel dafür nur ein altmodisches Wort ein: schelmisch. Sie trug einen viel zu großen olivgrünen Armeeparka mit einer fellbesetzten Kapuze. Als ich es schon fast nicht mehr erwartete, steckte sie ihr Handy in die Jackentasche, lächelte mich an, zeigte ihre weißen Zähne, und der ironische Ausdruck in ihrem Gesicht gewann die Oberhand. Ich fand sie sofort sympathisch.
»Ich bin auch Nachkriegsliteratur«, sagte sie und lachte ein wenig zu laut.
Ich stellte mich etwas zu förmlich vor (mit Nachnamen), und sie sagte, sie heiße Lea. Nach einer leicht peinlichen Gesprächspause betraten wir schließlich den Seminarraum.
Die Konferenz begann noch eintöniger, als ich es befürchtet hatte. Sogar der Vortrag über Bernhard zog sich zäh dahin, der Referent hatte offensichtlich nichts verstanden. Ein Schwaller, der schwallt. Ich dachte an Emrald, er hätte es hier keine zehn Sekunden ausgehalten und wahrscheinlich unter lauten Flüchen den Raum verlassen – und damit immerhin einen seiner Eklats erreicht.
Mein eigener Vortrag stand erst morgen an, und so döste ich vor mich hin. In der ersten Pause trank ich drei Tassen Kaffee, die mich kaum wacher werden ließen. Ich rief Johanna an.
»Was macht ihr?«, fragte ich.
»Ich räume auf. Brauchst du eigentlich noch diese komischen Figuren?«
»Jetzt geht das wieder los.«
»Star Wars? Hallo, das ist für Kinder.«
»Ich werde diese Diskussion nicht mehr führen, es ist eine intelligente politische Utopie.« Ich musste lachen. »Räum bitte nicht auf, wenn ich weg bin. Sonst schmeißt du bestimmt noch meine ganzen CDs weg.«
»Paul, niemand hört mehr CDs.«
»Ich schon.«
»Glaub mir, das ist mein Job. Alle downloaden nur noch. Oder streamen. Schon mal davon gehört?« Sie räusperte sich. »Wie ist es bei dir auf der Konferenz?«
»Das Übliche. Ich will nicht darüber reden. Die Konferenz zu erleben ist schon langweilig genug.«
»Robert ist jetzt doch bei Lars. Anscheinend haben sich Elke und Jon wieder zusammengerauft. Als ich ihn hingebracht habe, grinsten sie mich beide an, als würden sie bei einer Vorabendserie über junge, glückliche Pärchen mitspielen. Bald kaufen sie sich bestimmt einen Volvo und einen niedlichen Schäferhundwelpen und ziehen auf einen Bauernhof in Brandenburg. Das perfekte Familienglück. Man könnte glatt vergessen, dass mir Elke noch vor einer Woche erzählt hat, dass sie sich schon nach einer eigenen Wohnung umschaue. Gute Zeiten, schlechte Zeiten.«
»Ich wäre jetzt gern bei dir.«
»Schleimer.«
»Ich wäre jetzt überall lieber als hier.«
»Ich dachte schon, du wolltest mal was Nettes zu mir sagen.«
»Ich sage oft nette Sachen zu dir.«
»Dass ich ein wenig wie Prinzessin Leia aussehe?«
»Das habe ich nie gesagt! Außerdem ist das natürlich ein Kompliment. Und wir wollen doch nicht so werden wie Elke und Jon …«
»Da besteht keine Gefahr, Paul. Wir haben ja nicht mal das Geld für einen Volvo.«
»Ich muss dann mal wieder rein, es geht gleich weiter. Bis morgen.«
»Bring doch einen Hundewelpen mit!«
Ich lachte und legte auf. Die Konferenzteilnehmer strömten zurück in den Vorlesungssaal. Lea schien nicht unter ihnen zu sein, vielleicht wohnte sie in Leipzig und war längst nach Hause gegangen.
Der nächste Vortrag sollte von Martin Walsers späten Romanen handeln, ich hatte keinen von ihnen gelesen und würde es auch nicht tun, obwohl es für mein Doktorarbeitsthema natürlich relevant gewesen wäre.
Als Letzter betrat ich den Saal und setzte mich ganz nach hinten. Ich dachte an meine Schulzeit. Konnte man nicht schon damals die Guten von den Schlechten anhand ihres Sitzplatzes unterscheiden? Die Schlechten saßen selbstverständlich hinten, mit möglichst viel Distanz zwischen sich und dem Lehrer. Natürlich bewunderten alle die Coolen aus der letzten Reihe. Sie fuhren mit Mountainbikes zur Schule, rauchten in der Hofpause verstohlen Zigaretten und lasen Comics unter dem Tisch. Ich saß früher immer in der Mitte. Ich bin mir sicher, dass Johanna zu der Letzte-Bank-Riege gehört hatte, als einziges Mädchen.
Nach dem Walser-Vortrag stand ich etwas abseits auf dem Flur und pumpte an einer riesigen Kaffeekanne, aus der allerdings nur noch ein kümmerliches Rinnsal schwarzer Flüssigkeit tropfte. Einen letzten Vortrag musste ich noch überstehen. Danach konnte ich in meinem Hotelzimmer verschwinden, mich auf dem Bett ausstrecken, das wahrscheinlich nach Desinfektionsmittel riechen würde, und irgendeine Doku über den Ersten Weltkrieg oder die Eröffnung eines Wellnessresorts an der Ostsee ansehen.
»Die ist leer.«
Ich sah auf, Lea stand neben mir und deutete auf die Kaffeekanne, deren Pumpmechanismus ich immer noch stoisch bewegte, obwohl der Kaffeefluss längst versiegt war.
»Paul war dein Name, oder?«
Ich nickte und unterdrückte ein Gähnen, das anonyme Hotelzimmer immer noch vor meinem inneren Auge.
»Hältst du auch einen Vortrag?«, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Immerhin hörte ich auf, imaginären Kaffee zu pumpen.
»Nö.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin einfach nur so vorbeigekommen, um mich von meiner langweiligen Diss abzulenken.«
Jetzt drängten sich natürlich die Anschlussfragen auf: Über was schreibst du deine Doktorarbeit? Und warum findest du sie langweilig? Kann überhaupt etwas langweiliger sein als diese Konferenz? Doch ich kam nicht dazu. Eine Frau trat zu uns, nickte uns schlecht gelaunt zu, wuchtete die leeren Kannen auf ihren Wagen und verschwand wieder.
»Das war’s dann wohl mit Kaffee für heute.« Lea lachte. »Wovon handelt dein Vortrag?«
»Liebe«, antwortete ich und kam mir unfassbar bescheuert vor. »Also … Konzeptionen der Liebe in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.«
Jetzt, wo es keinen Kaffee mehr gab, könnte ich ja fragen, ob wir nicht zusammen einen trinken gehen wollten, schoss es mir durch den Kopf, einfach so, doch Lea wandte sich schon ab.
»Der nächste Vortrag geht los«, sagte sie, zum Glück ohne auf mein Dissertationsthema einzugehen, und ging zurück zum Seminarraum. Ich blieb einfach stehen, mein Kopf völlig leer, gedankenlos. Nach ein paar Metern drehte sie sich um und schaute zu mir zurück. »Kommst du mit?«
»Ja, klar, ich komme«, sagte ich und folgte ihr.
Rituale beruhigten mich. Jeden Morgen der Weg zur Universität, mit der altehrwürdigen U3 durch Westberlin. Die monumentalen Bahnhöfe – Heidelberger Platz, Rüdesheimer Platz, Breitenbachplatz. Wie es oben aussah, was für Plätze sich hinter den Namen versteckten, ich hatte keine Ahnung. Manchmal, auf der Rückfahrt, überlegte ich, einfach auszusteigen, aber tat es nie.
Diese Routine, jeden Tag die gleiche Strecke zu fahren, manchmal sogar die gleichen Gesichter in der U-Bahn zu sehen, bereitete mir ein seltsames Hochgefühl, das ich mit nichts vergleichen konnte außer anderen Routinevorgängen: zum Briefkasten gehen, die Zeitung aufschlagen, der erste Schluck Kaffee morgens im Stehen, aus dem Küchenfenster blickend. Sogar so etwas wie die Schuhe parallel ausgerichtet neben der Wohnungstür anzuordnen, vermochte dieses sanfte Glücksgefühl