Mein liebstes Ritual wurde der kurze Weg von der U-Bahn-Haltestelle zum Institut. Die Luft schien mir reiner, und es war stiller als in der Innenstadt, trotz der Studenten, denen man hier überall begegnete. Wenn man nur eine Querstraße von den üblichen Wegen abwich, fand man sich plötzlich allein zwischen scheinbar unbewohnten Villen wieder. Auf den Gehwegen sammelte sich im Herbst das Laub der hohen Bäume, die jede der kleinen Straßen säumten, und morgens roch es fast das ganze Jahr über nach feuchtem Gras.
An diesem Morgen in Leipzig, eingesperrt in ein viel zu kleines Zimmer eines Billighotels, sehnte ich mich nach meinen morgendlichen Ritualen, nach dem Blick aus dem Küchenfenster, dem Weg zur Uni.
Ich duschte in einer Art Plastikkabine, in der ein blaues Neonlicht ansprang, wenn man die Dusche anstellte. Das ganze Zimmer war nur mit unglaublich hässlichen, wahrscheinlich wahnsinnig energiesparenden Lichtquellen ausgestattet und verströmte die Atmosphäre einer Leichenhalle. Kaum erfrischt stieg ich wieder aus der Kabine und sah mir mein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken an. Im unerbittlichen Licht der Energiesparlampen wirkte es noch fahler, als es ohnehin schon war. Weiß wie Wachs. Dieses Gesicht mir gegenüber im Spiegel passte überhaupt nicht in diese fremde Umgebung, in dieses Plastikbadezimmer. Als hätte jemand mit einem schlechten Graphikprogramm ein Foto von mir in eine Computerlandschaft versetzt. Und wann hatte ich eigentlich angefangen, graue Haare zu bekommen? Ich fand nicht viele, vielleicht vier oder fünf an jeder Schläfe. Immerhin verlor ich meine Haare noch nicht.
Der erste Vortrag (schon wieder Walser, wie ich entsetzt feststellte) sollte um Viertel nach acht beginnen, und als ich mich kurz vorher im Seminarraum einfand, sah ich Lea nirgendwo. Nur langsam füllte sich der Raum mit müden Konferenzteilnehmern, wie ich brachte jeder einen Pappbecher mit Kaffee mit. Niemand von diesen übernächtigten Zombies würde im normalen Arbeitsmarkt bestehen (und ich als Letzter).
Ich bemerkte sie erst, als sie sich direkt hinter mir auf einen Stuhl fallen ließ und ihren Pappbecher auf den Tisch knallte.
»Guten Morgen«, rief sie und wirkte viel wacher als alle anderen. Ihre Haare trug sie heute als Pferdeschwanz, ein riesiger Schal, den sie kunstvoll um ihren Hals arrangiert hatte, verdeckte fast ihr ganzes Gesicht. Den Parka hängte sie über ihre Stuhllehne.
»Danach bist du dran, oder?«
Ich nickte müde und nahm einen Schluck aus meinem Becher.
Der Vortrag über Walser ließ sich überraschenderweise furios an. Dieses Mal ging es um Ein fliehendes Pferd, das einzige Buch von ihm, das ich halbwegs erträglich fand.
Diese ganzen Bücher verschwommen zusehends. Ich konnte mich kaum noch an die Handlung erinnern, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen hatte, schon gar nicht an den Anfang. Einmal begann ich aus Versehen ein Buch ein zweites Mal zu lesen, das ich vielleicht zwei Monaten vorher beendet hatte – es fiel mir erst nach hundertfünfzig Seiten auf. Also hatte ich beschlossen, einfach keine Bücher mehr zu lesen, beziehungsweise: Es war natürlich kein bewusster Entschluss gewesen – ich las einfach nicht mehr. Mein ganzes Leben lang hatte ich Bücher verschlungen, doch seit etwa einem Jahr rührte ich kein Buch mehr an. Ich wollte einfach keine Geschichten mehr hören. Ziemlich schlecht für einen Literaturwissenschaftler.
Der Vortrag handelte hauptsächlich von Liebe. Von sterbender Liebe. Mein Thema. Leider. Die alternden Pärchen am Bodensee, das verlogene Leben, der spießige Habitus, ich dachte an Elke und Jon – zu meiner Überraschung fand es der Vortragende allerdings gar nicht hoffnungslos. Das eine Paar fände einen Ausweg aus der peinlichen und festgefahrenen Situation, indem sie am Ende wieder miteinander reden würden. »Frei und wie gleichberechtigte Partner«, sagte er mit leuchtenden Augen. Beinahe hätte ich mich gemeldet und ihn darauf hingewiesen, dass das alles doch die immer gleichen, hilflosen Ausbruchsversuche seien, da gebe es ja wohl schon von Anfang an keine Hoffnung.
Der Referent schien tatsächlich begeistert von seinem Thema, er mochte dieses Buch wirklich und zitierte ständig irgendwelche Sätze Walsers, die er besonders treffend fand. »Man ist ja viel länger tot als lebendig«, zum Beispiel. Das hätte Emrald auch nicht besser sagen können. Leidenschaft für ein Thema findet man selten an der Uni. Dabei sah der Vortragende mit seiner blassen Haut und dem ausgebeulten Cordanzug wie ein Bilderbuch-Akademiker aus. Und mehr graue Haare als ich hatte er auch.
Ich war plötzlich viel wacher. Gespannt folgte ich den Ausführungen über den schrecklichen Walser und hätte mir beinahe sogar Notizen gemacht – wenn ich einen Stift dabeigehabt hätte. Ich spürte Leas Augen auf mir, auch wenn ich mich nicht traute, mich umzuschauen und ihren Blick zu erwidern. Falls sie mich überhaupt ansah. Ihre Gegenwart hatte mich wacher gemacht, als zwei Liter Kaffee es vermochten.
Der fünfundvierzigminütige Vortrag mit anschließender Fragerunde (Lea fragte nichts, ich natürlich auch nicht) verging wie im Flug, schon bedankte sich der Cord-Akademiker, und wir klopften anerkennend auf die Tische. Schließlich drehte ich mich doch zu ihr um, sie war bereits aufgestanden und wechselte ein paar Worte mit dem Referenten, sie schienen sich zu kennen. Sie verabschiedete sich schnell von ihm, wandte sich um und sah zu mir herunter, ich saß ja noch immer. Ruckartig stand ich auf – und plötzlich waren wir uns viel zu nah.
Wenn ich mich jetzt nach vorn beugte, hätte ich sie küssen können.
Warum dachte ich das?
Mir kam ein besonders schlimmer Satz aus dem Vortrag in den Sinn: »Jeder noch lebendige Mann will sich von seiner Frau trennen, nur Tote sind treu.«
Walser kotzte mich wirklich an.
Mein Vortrag sollte ebenfalls eine Dreiviertelstunde dauern, danach Fragen, wenn es welche gab – und es gab immer welche. Falls sich niemand von den Zuhörern meldete, improvisierte grundsätzlich einer der Organisatoren der Konferenz eine allgemeine Frage. Auch der Unibetrieb wird von Ritualen beherrscht.
Ich hielt den gleichen Vortrag wie immer, änderte bei jeder Konferenz nur den Titel, variierte die Reihenfolge und manchmal die besprochenen Texte. Ein Prinzip, das sich bei meinen Seminaren in Berlin bewährt hatte. Die Wiederholung brachte auch den Vorteil mit sich, dass ich gelassen und kompetent wirkte. Bloß nicht den Faden verlieren und anfangen zu stottern, sonst dachte jeder, man wäre schlecht vorbereitet oder noch schlimmer: dumm. Inhalte wurden überschätzt, denn, Emrald hatte es gesagt, es hört ohnehin keiner zu.
Heute lief mein Vortrag allerdings nicht ganz so rund. Ich versprach mich immer wieder und musste mich korrigieren, weil ich im Manuskript verrutschte. Fahrig manövrierte ich mich durch meine Argumentation, und als ich zum Ende kam, schielte ich zum ersten Mal auf mein Handy. Es war schon kurz vor zwölf. Gut, ich hatte aus dem Stegreif einen Exkurs zu Bernhards Holzfällen eingefügt, das ich gerade im Seminar besprach und das eigentlich überhaupt nichts mit meinem Thema zu tun hatte; aber das sollte eine Viertelstunde Überlänge verursacht haben?
»Tut mir leid«, stotterte ich und blickte auf die etwa dreißig anwesenden Zuhörer, weniger als gestern Nachmittag, das gleiche Phänomen bei jeder Konferenz: Am Morgen des zweiten Tages erscheint nur noch ein Bruchteil. Sie starrten mich apathisch an. »Gibt es noch Fragen?«
Murmeln setzte ein, und ich hoffte inständig, dass niemand meine Berechtigung, Holzfällen in einen Vortrag mit dem Titel Konzeptionen der Liebe aufzunehmen, kritisierte. Tatsächlich rang sich nicht einmal einer der Organisatoren zu einer Frage durch, vielleicht war gar keiner anwesend. Nach einem kurzen Blick in die Runde beendete ich die Sitzung.
»Schöner Vortrag.« Lea hatte ihren Parka bereits wieder angezogen, und wir verließen zusammen den Seminarraum. Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage nach ihrem Alter. Ich hatte keinen blassen Schimmer. Irgendwann in den letzten zehn Jahren hatte ich jegliches Gefühl dafür verloren, ob jemand in meinem Alter war oder nicht.
»Ach, ich halte eigentlich immer den gleichen Vortrag, bis jetzt hat’s nur noch niemand gemerkt.«
Sie