Cam erinnerte sich dunkel an ein Ziehen und Zerren und seine Arme schmerzten vermutlich nicht nur, weil sie auf dem Rücken zusammengebunden waren.
Sie hatten ihn zu Fuß hierhergebracht.
Wie lange hatten sie dafür gebraucht?
Cam hatte keine Ahnung.
Wütend rieb er seine Hände weiter über die Stuhlkanten.
Das verfallene Picknickareal war groß. Auch nach knapp siebzig Jahren hatte der Wald sich den Platz noch nicht komplett zurückerobert. Über sich hatte Cam freie Sicht auf den Himmel. Kalter Nieselregen fiel aus tiefhängenden Wolken. Die Dämmerung hatte eingesetzt und die Sperrstunde war mit Sicherheit längst überschritten.
Zu Hause wunderten sich bestimmt alle, wo er blieb. Wahrscheinlich machten sie sich sogar schon Sorgen, weil er sich nicht gemeldet hatte, um Bescheid zu geben, dass er später kam. Vielleicht hatten sie sogar schon versucht, ihn zu erreichen.
Cam wusste nicht, wo sein Handy war. Er spürte es nicht mehr in seiner Jackentasche, also hatten die Dreckskerle es ihm abgenommen und mit Sicherheit ausgeschaltet, damit man es nicht orten konnte. Mit etwas Glück steckte es vielleicht in seinem Rucksack, der neben ihm im Gras lag. Doch selbst wenn, war es dort völlig nutzlos und hätte genauso gut auf dem Mond sein können. Dort wäre es für ihn ähnlich unerreichbar gewesen.
Wieder zerrte er an den verdammten Fesseln, die aber noch immer kein bisschen nachgeben wollten. Wütend keuchte er auf.
Er konnte keine Hilfe rufen, solange er hier angebunden war. Und er brauchte Hilfe. Er musste hier weg!
Er hatte keine Ahnung, wie viele Tote es hier auf der Lichtung gegeben hatte. Die Selbstmorde vom Tumbleweed Park waren zwar wirklich passiert, doch im Laufe der Jahre hatten sich die Tatsachen mehr und mehr mit Fantasie verwoben und jeder erzählte das, was damals geschehen war, ein bisschen anders. Es war zu einer realen Horrorgeschichte geworden, die immer wieder mit neuen grausigen Details ausgeschmückt wurde.
Zwanzig Tote?
Dreißig?
Er wusste es nicht. Doch sie waren zu Repeatern geworden und sobald die Nacht hereinbrach, würden sie auftauchen und ihr Todesritual wieder und wieder vollziehen, bis der Morgen anbrach.
Und wehe, jemand störte sie dabei.
Verbissen ratschte Cam die Fesseln weiter über den Stein.
Er musste hier weg.
Mit all diesen Geistern konnte er es unmöglich alleine aufnehmen. Schon gar nicht in einer Unheiligen Nacht.
Hasserfüllt starrte er auf die Kamera, die auf einem kleinen Stativ zwischen Schüsseln, Tellern und Platten auf der Festtafel stand. Ein rotes Licht blinkte und zeigte an, dass eine Aufnahme stattfand.
Diese verdammten Arschlöcher!
Es war erniedrigend, hier angebunden zu sein, während seine Peiniger irgendwo in Sicherheit saßen und ihm dabei zusahen, wie er um sein Leben kämpfte.
Cam biss die Zähne zusammen, zerrte trotzdem unermüdlich weiter an seinen Fesseln und klammerte sich an seine Wut, weil die Alternative Verzweiflung gewesen wäre und die durfte er auf keinen Fall zulassen, denn sonst hielt er das hier nicht aus. Und wenn er nicht durchhielt, würde es ihn sein Leben kosten, und diesen Triumph wollte er Topher auf gar keinen Fall gönnen.
Kapitel 6
20:03 Uhr
Thad drückte den Klingelknopf und warf warnende Blicke zu Gabriel und Sky. »Wie besprochen, klar?«
Sky schnaubte. Gabriel ignorierte ihn, doch seine Gesichtsmuskeln verrieten, wie fest er die Kiefer aufeinanderpressen musste, um sich zu beherrschen.
Thad sah kurz zu Connor. Der nickte knapp. Obwohl er selbst ebenfalls den kaum zu bändigenden Drang verspürte, diesen Topher in die Mangel zu nehmen, würde er trotzdem dafür sorgen, dass Gabriel und Sky nichts taten, was ihre Jobs gefährdete – oder ihre Leben.
Die Haustür öffnete sich einen Spalt und eine zierliche dunkelhaarige Frau mittleren Alters musterte sie argwöhnisch. Die Sperrstundenzeit hatte längst begonnen, da klingelte eigentlich niemand mehr an Haustüren.
»Ja bitte?« Ihr Blick glitt über die schwarzen Linien, die Sky und Gabriel an ihren Schläfen trugen, und ihre Miene wurde schlagartig abweisend. »Was wollen Sie hier?«
Thad zog seinen Dienstausweis und hielt ihn ihr unter die Nase. »Guten Abend. Chief Inspector Pearce von der London Metropolitan Police. Das sind meine Kollegen aus der Spuk Squad.« Mit einer Geste wies er auf Connor, Sky und Gabriel. »Sind Sie Clarice Morena, die Mutter von Topher Morena?«
»Ja, das bin ich.« Jetzt flackerte plötzlich Sorge in ihrem Blick. »Warum? Ist etwas mit Topher?«
»Dann ist er nicht hier?«, fragte Sky, was ihr einen missbilligenden Blick von Ms Morena einbrachte. Offensichtlich schätzte sie es nicht, von einer Totenbändigerin angesprochen zu werden.
»Nein. Warum wollen Sie das wissen?«
Gabriel trat einen Schritt vor, doch bevor er etwas sagen konnte, ging Connor dazwischen.
»Einer von Tophers Mitschülern ist heute am späten Nachmittag von drei Jugendlichen in einen Wagen gezerrt und verschleppt worden. Die Aufzeichnungen einer Überwachungskamera zeigen, dass Topher einer dieser Jugendlichen war.«
Der Gesichtsausdruck von Clarice Morena wurde verkniffen und noch deutlich abweisender als zuvor. »Handelt es sich bei dem verschleppten Mitschüler wieder um diesen Jungen, den Topher angeblich mobbt?«
»Allerdings.«
»Himmel, er ist ein Totenbändiger!«, begehrte Ms Morena auf und warf giftige Blicke in Richtung Gabriel und Sky. »Ich verstehe gar nicht, warum deshalb ständig so ein Theater gemacht wird. Topher hat das Recht, ihn in seine Schranken zu weisen, wenn er sich durch diese Missgeburt bedroht fühlt!«
Gabriels Hände ballten sich zu Fäusten und er hielt sich nur zurück, weil Connor ihm fast den Arm zerquetschte.
»Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen deutlich, dass der Junge weder Topher noch einen der beiden anderen Beteiligten bedroht hat«, stellte Thad mit kühler Ruhe klar. »Trotzdem haben die drei ihn betäubt, in ihr Auto gezerrt und mitgenommen. Wissen Sie, wo sich Ihr Sohn gerade aufhält? Er macht sich strafbar, wenn er den Jungen grundlos gegen seinen Willen festhält. Und für Sie gilt das Gleiche, wenn Sie unsere Ermittlungen behindern und Informationen zurückhalten.«
Wut blitzte in Ms Morenas Augen auf. »Dieser Junge ist ein Totenbändiger, Himmel noch mal! Sie glauben doch nicht wirklich, dass irgendein Richter meinen Sohn dafür verurteilen würde, sollte er diesem Freak eine Lektion erteilen! Also sparen Sie sich Ihre erbärmlichen Einschüchterungsversuche. Mein Sohn ist fast achtzehn, ich vertraue ihm und er darf seiner eigenen Wege gehen. Ich weiß nicht, wo er heute Nacht ist, aber er hat mir versichert, dass er in Sicherheit sein wird. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Mehr will ich Ihnen auch nicht sagen. Sollten Sie weitere Fragen haben, werden Sie die mir oder meinem Sohn nur in Gegenwart unseres Anwalts stellen, haben Sie das verstanden? Und jetzt verschwinden Sie von meinem Grundstück. Guten Abend!«
Mit einem letzten giftigen Blick in die Runde, trat sie zurück ins Haus und warf geräuschvoll die Tür zu.
Schäumend vor Wut starrte Gabriel ihr hinterher und riss seinen Arm aus Connors Griff. Den stechenden