»Ich will jetzt keinen Tee, Granny«, knurrte Jules dumpf zwischen seinen Armen hervor. »Und ich will auch keine aufmunternden Worte hören. Oder dass Mum, Dad und die anderen sich schon um alles kümmern werden. Wenn Topher Cam in eine Panikstarre getrieben hat, dann sollte ich bei ihm sein, wenn sie ihn finden. Ich kann ihn da wieder rausholen. Ich bin gut darin und das wissen Mum und Dad! Und ja, ich weiß, Mum kann das auch. Oder Gabe. Oder Sky. Aber trotzdem! Ich sollte das machen! Ich sollte jetzt bei ihm sein!«
Aufgebracht krallte er seine Finger wieder in seine Haare. Edna blieb einfach nur still neben ihm sitzen und ließ ihn reden, weil sie wusste, wie ihr Enkel tickte. Jules war eigentlich eher ruhig und besonnen, genau wie sein Vater. Doch reizte man ihn zu sehr oder traf einen falschen Nerv, brauchte er ein Ventil, um sich Luft zu machen. Und trieb man ihn zu weit, konnte er auch schon mal um sich schlagen. In dem Punkt kam er ganz nach seiner Mutter.
»Wenn Mum und Dad Angst haben, dass ich Topher an die Gurgel gehen könnte, müssen sie sich doch bei Gabe viel mehr Sorgen deswegen machen«, grollte Jules weiter. »Gabe ist der Hitzkopf, nicht ich! Bei ihm müssen sie aufpassen, wenn Topher Cam irgendwas angetan hat. Obwohl ich hoffe, dass Gabe diesen Scheißkerl echt fertigmacht. Dass Topher Cam so auf dem Kieker hat, ist das Allerletzte! Cam hat nichts getan, um das zu verdienen! Er hat in der Schule alles gemacht, um sich einzufügen. Er ist nirgendwo angeeckt. Warum schikanieren sie ihn dann trotzdem ständig? Nur weil er stiller ist als andere? Weil er Zeit braucht, um mit Fremden warmzuwerden? Mann, wenn diese Idioten das hätten durchmachen müssen, was Cam durchgemacht hat, wer weiß, wie die dann drauf wären!«
Voller Wut knallte er seine Fäuste auf den Tisch und ließ damit fast den Tee aus den Tassen schwappen.
»Die haben doch überhaupt keinen blassen Schimmer, wie großartig Cam ist!«, schimpfte er weiter. »Er würde niemals jemanden so mies behandelt, wie Topher es mit ihm macht. Und Cam würde auch niemals so einen Dreck abziehen wie Stephen oder Teagan. Aber die sind in der Schule alle megabeliebt! Warum? Ich verstehe es nicht! Keine Ahnung, ob ich zu blöd dafür bin oder einfach nur keine Ahnung von den beschissenen Sozialstrukturen hab, die in Schulen offensichtlich herrschen. Diesen ganzen Mist haben wir im Homeschooling nie gelernt. Aber ich finde es zum Kotzen! Warum geben sie jemandem wie Cam keine Chance? Es liegt doch nicht nur daran, dass er ein Totenbändiger ist. Das sind Ella und ich schließlich auch, aber mit uns hatten sie am Anfang keine Probleme. Warum sehen sie nicht, was für ein unglaublicher Mensch Cam ist? Er ist so viel besser als Stephen und Teagan und all die anderen Scheißleute!«
Wieder ballte er die Fäuste, doch bevor er sie noch einmal auf die Tischplatte donnern konnte, legte Edna ihre Hand über seine.
»Ich glaube, dass du Cam so siehst, ist viel mehr wert, als wenn eure ganze Schule ihn so sehen würde.« Sie bedachte ihren Enkel mit einem liebevollen Lächeln und tätschelte seinen Arm, als Jules mit einem verwirrten Stirnrunzeln zu ihr aufsah. »Manchmal ist vor allen Dingen wichtig, dass die richtigen Menschen uns so lieben, wie wir sind. Dann sind die ganzen Vollidioten um uns herum viel leichter zu ertragen« Sie tätschelte noch einmal seinen Arm und stand dann auf, um nach dem Essen zu sehen. »Das heißt allerdings nicht, dass wir hinnehmen werden, wenn andere Cam schlecht behandeln.«
Jules lachte zynisch auf. »Ach ja? Und was wollt ihr diesmal dagegen tun? Topher noch mal anzeigen? Das hat doch schon beim ersten Mal nichts gebracht! Und er wird sich auch jetzt wieder damit rausreden, dass Cam ein Totenbändiger ist, er sich von ihm bedroht gefühlt hat und es deshalb sein gutes Recht war, Cam eine Lektion zu erteilen. Und unser beschissenes Rechtssystem wird ihm dabei sogar den Rücken stärken! Wir Totenbändiger sind doch schließlich immer die Bösen!«
Edna wandte sich wieder zu ihm um. »Das Video der Überwachungskamera zeigt, dass Cam absolut nichts getan hat, von dem sich irgendjemand hätte bedroht fühlen können.«
»Ja, und? Dann werden sie einfach behaupten, er hätte es vorher getan.«
»Vorher war er bei Evan und davor mit euch in der Schule. Es gibt genügend Beweise für Cams Unschuld und es ist bekannt, dass Topher es auf ihn abgesehen hat. Er wird damit nicht durchkommen.«
Jules schnaubte bloß und behielt jeden weiteren Kommentar für sich.
»Hey«, versuchte Edna ihn aufzumuntern. »Wo ist dein Optimismus hin? Der Zyniker ist doch sonst immer Cam.«
»Ja, und ich kann ihn mittlerweile gut verstehen!« Aufgebracht schnappte Jules sein Handy vom Tisch, obwohl klar war, dass Sky noch keine Nachricht geschickt hatte. »Und Optimismus würde so viel leichter fallen, wenn ich hier nicht blöde herumsitzen müsste, sondern irgendwas tun könnte!«
Wie aufs Stichwort ertönte in diesem Moment das Piepen der Wachmaschine aus dem Hauswirtschaftsraum und teilte mit, dass die Wäsche fertig war.
Edna musste grinsen und sah vielsagend zu ihrem Enkel.
Der erwiderte ungläubig ihren Blick. »Nicht dein Ernst!«
Sie hob die Schultern. »Besser, als hier herumzusitzen und frustriert die Wände hochzugehen, oder? Und wenn Cam heimkommt, freut er sich sicher, wenn du den Wäschedienst für ihn erledigt hast.«
Jules rollte bloß die Augen, raffte sich aber auf und verschwand in den Hauswirtschaftsraum. Als er die Waschmaschine öffnete, purzelte ihm der Sockenberg einer zehnköpfigen Familie entgegen.
Echt jetzt?
Was wollte ihm das Schicksal mit dieser Geduldsprobe sagen?
Entnervt atmete er tief durch und zwang sich zu Ruhe und Gelassenheit, weil ausrasten und rumschreien nicht wirklich erwachsen und noch weniger hilfreich gewesen wären. Dann schaufelte er alle Socken aus der Maschine in den Wäschekorb und machte sich ans Aufhängen.
Und wehe die anderen meldeten sich nicht, sobald er hier fertig war …
Kapitel 5
Ihm war kalt.
Das Wasser, das Topher ihm ins Gesicht geschüttet hatte, hatte seine Schuluniform durchnässt und jetzt klebte sie eisig an seiner Haut.
Doch die Kälte war gut. Sie machte wach und vertrieb endlich den ätzenden Nebel aus seinem Kopf. Der Kopfschmerz von dem widerlichen Zeug, mit dem sie ihn betäubt hatten, pochte auch nicht mehr ganz so heftig gegen seine Schläfen.
Zum Glück.
Er musste seine Sinne beisammenhaben, sobald die Geister auftauchten.
Zum x-ten Mal zerrte er an den Kabelbindern, mit denen seine Hände an die Lehne des steinernen Stuhls gefesselt waren. Doch sie saßen zu eng, als dass er sich hätte herauswinden können, und das Material war zu stabil, um es zu zerreißen. Er probierte zwar, die Plastikriemen am Stein der Stuhllehne durchzuscheuern, aber dafür würde er vermutlich die ganze Nacht brauchen. Wind und Wetter hatten die einst sauber gearbeiteten Kanten der Lehne abgeschmirgelt und die Natur hatte alles mit glitschigem Moos überzogen. Seinen Silbernebel konnte er zwar auch mit gefesselten Händen rufen, aber Geister zu bändigen, wenn man ihnen nicht ausweichen konnte, war ein lebensgefährliches Glückspiel.
Verbissen rieb er die Hände weiter gegen die Kanten der Stuhllehne, weil es das Einzige war, das er tun konnte. Es brannte und er spürte klebriges Blut an seinen Fingern. Kabelbinder und Stein hatten die Haut an seinen Handgelenken aufgeschürft.
Aber genau wie die Kälte war auch der Schmerz gut.
Er machte wütend und Wut gab ihm Kraft, um durchzuhalten.
Er biss die Zähne zusammen und scheuerte weiter.
Wie spät mochte es sein?
Er hatte sein Zeitgefühl verloren, als sie ihn betäubt hatten. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Eine Stunde? Anderthalb?
Der Weg von der Bushaltestelle