Gleich darauf schob er den Gedanken beiseite. Es war bestimmt die Aufregung vor der Reise gewesen, weshalb Inka keinen Hunger gehabt hatte, beruhigte er sich.
Kurz darauf verließ er sein Haus.
Die Sonntagsglocken läuteten, als er sich auf den Weg zur Kinderklinik Birkenhain machte. Vor der Kirche begegnete er Anne Buschen, der Inhaberin der Familienpension »Haus Daheim«. Sie hielt ein Gesangbuch in der Hand und grüßte fröhlich: »Einen schönen guten Morgen, Herr Doktor.«
»Guten Tag, Frau Buschen. Geht es Ihnen gut?« erkundigte sich Dr. Mettner mit freundlichem Lächeln.
»Es könnte gar nicht besser sein«, war die Antwort.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag«, erwiderte der Arzt.
»Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Doktor«, rief Anne Buschen, dann verschwand sie in der alten, schönen Dorfkirche von Ögela.
Fünf Minuten später erreichte Dr. Mettner die Kinderklinik. Im gleichen Moment, als er in die große Eingangshalle trat, kam Dr. Hanna Martens die Treppe vom ersten Stockwerk herunter.
Die Chefärztin der Kinderklinik Birkenhain war schon von ihrer äußeren Erscheinung her eine sehr bemerkenswerte Frau. Ohne den weißen Arztkittel und in anderer Umgebung hätte man sie für ein Mannequin halten können.
Blonde, bis auf die Schultern fallende Locken umgaben ein schmales und zartes Gesicht. Der schöngeschnittene Mund, die großen blauen Augen und die hohe klare Stirn waren von klassischer Schönheit. Ihre Figur hatte etwas Mädchenhaftes.
Wie so oft schon wunderte sich Dr. Mettner, daß ausgerechnet Dr. Hanna Martens noch immer nicht verheiratet war. Seiner festen Überzeugung nach war sie wie geschaffen dafür, mit einem Mann glücklich und Kindern eine gute Mutter zu sein.
Gewiß, schoß es dem Arzt durch den Kopf, der Beruf als Chefärztin einer angesehenen Kinderklinik, ließ sich kaum mit der Rolle als Ehefrau und Mutter vereinbaren. Dr. Hanna Martens hatte sich für den Beruf entschieden. Aber das, sagte sich Dr. Mettner in diesem Moment, konnte sich ja noch ändern. Es mußte nur der Richtige auftauchen.
»Guten Morgen, Herr Doktor Mettner«, grüßte Hanna und reichte ihrem Kollegen die Hand.
»Guten Tag, Chefin«, erwiderte der Arzt.
»Sie sollen nicht immer Chefin zu mir sagen«, entgegnete Hanna lächelnd.
»Aber Sie sind nun einmal meine Chefin. Zum Glück bin ich als Mann so emanzipiert, daß es mir nichts ausmacht, eine Frau als Chefin zu haben«, erklärte Dr. Mettner.
»Ich sehe, Sie lassen sich nicht davon abbringen. Übrigens… ich habe etwas für Sie«, sagte Hanna, während sie mit Dr. Mettner durch die Glastür trat, die in den Medizinischen Trakt der Klinik führte.
»Für mich? Was denn?« wunderte sich der Arzt.
»Das zeige ich Ihnen gleich«, gab Hanna zur Antwort und öffnete die Tür zum Arztzimmer. Dr. Mettner folgte ihr in den lichtdurchfluteten Raum, von dem aus man einen herrlichen Blick in den großen Klinikpark hatte.
»Das hat vorhin eine junge Frau für Sie abgegeben«, berichtete Hanna. Sie reichte ihrem Kollegen ein ungerahmtes Bild, auf dem eine Heidelandschaft zu sehen war. Im Hintergrund war der behäbige Glockenturm der Kirche von Ögela zu erkennen.
»Das sieht ja sehr hübsch aus. Aber wie komme ich dazu? Ich kenne niemanden, der mir ein Bild schenken könnte«, erklärte Dr. Mettner der Chefärztin.
»Der Name der Dame ist… warten Sie mal, ich habe ihn hier aufgeschrieben«, sagte Hanna. Sie nahm einen kleinen Zettel von ihrem Schreibtisch und warf einen Blick darauf. »Angela von Wölfel. Sie war gestern, wie sie mir erzählte, mit ihrem kleinen Sohn hier. Wenn ich Frau von Wölfel richtig verstanden habe, litt das Baby unter Dermatitis seborrhoides«, fuhr Hanna fort.
»Jetzt weiß ich«, rief Dr. Mettner aus. »Stimmt ja. Frau von Wölfel hat mir gesagt, daß sie Malerin ist.«
»Die Medikamente, die Sie Frau von Wölfel mitgegeben haben, müssen ihrer Aussage nach Wunder gewirkt haben«, berichtete Hanna.
»Es handelt sich um Cremes und Pasten mit Glukokortikosteroiden und antimikrobiellen Zusätzen«, erklärte Dr. Mettner.
»Dem Kleinen scheint es auf jeden Fall wieder sehr viel besser als gestern zu gehen. Mit dem Bild möchte sich seine Mama bei Ihnen bedanken«, erwiderte Hanna.
Dr. Mettner betrachtete es noch einmal kritisch. »Ich glaube, es wird meiner Frau gefallen. Ich muß es nur noch schön rahmen lassen«, meinte er.
Dr. Mettner nahm das Bild, brachte es ins Ärztezimmer und nahm das Buch zur Hand, in dem Schwester Regine die Vorkommnisse der Nacht aufgezeichnet hatte. Es war nichts Außergewöhnliches geschehen. Wäre es anders gewesen, überlegte der Arzt, hätte die Chefin ihm das auch bereits mitgeteilt.
Dr. Mettner beschloß, einen Gang durch die Station zu machen. Er stieg die Treppe zur ersten Etage der Klink hinauf, wo die Krankenzimmer lagen.
Im vorderen Zimmer auf der linken Seite waren der zehnjährige Jörg Bartels und der neunjährige Christoph Mechthold untergebracht. Beiden Jungen war der Blinddarm entfernt worden, und jetzt stritten sie sich darüber, wessen Blinddarm größer und damit gefährlicher gewesen war.
»Herr Doktor, mein Blinddarm war doch so groß wie eine Hand, nicht wahr?« wollte Jörg von Dr. Mettner wissen.
»Meiner war noch viel größer. Nämlich so groß wie mein Fuß«, rief Christoph und streckte seinen linken Fuß unter der Bettdecke hervor.
Dr. Mettner mußte lachen.
»Schade, daß ich eure Wurmfortsätze nicht aufbewahrt habe. Sonst könntet ihr euch selbst davon überzeugen, daß ihr beide ganz maßlos übertreibt«, antwortete er den Kindern.
»Wurmfortsätze? Welche Wurmfortsätze?« fragte Jörg ganz entsetzt.
Der Arzt setzte sich neben ihn auf den Bettrand. »Es war nicht der Blinddarm, den Dr. Martens euch rausgenommen hat, sondern der Wurmfortsatz des Blinddarms. Das ist ein kleines Zipfelchen, das am Blinddarm dranhängt«, erklärte er.
»Ach so«, meinte Christoph ganz enttäuscht. Er berührte unter der Bettdecke den Verband über seiner Narbe. »Dann war es ja gar keine gefährliche Operation«, sagte er.
»So ungefährlich war das alles aber auch nicht«, erwiderte der Arzt. »Wenn sich der Wurmfortsatz nämlich entzündet und vereitert, wie das bei dir und Jörg der Fall war, muß er sofort raus. Sonst kann es sehr kritisch werden.«
In Jörgs Augen blitzte es auf. »Dann war es also doch gefährlich?« stieß er hervor.
»Ganz bestimmt sogar«, bestätigte Dr. Mettner.
Jörg lächelte vor Stolz. »Das erzähle ich meinen Freunden. Und ich zeige ihnen auch die Narbe auf meinem Bauch«, verkündete er.
Dr. Mettner erhob sich von der Bettkante. »Bleiben Sie doch noch ein bißchen bei uns, Herr Doktor«, bat Christoph und richtete seinen Oberkörper auf.
»Ich möchte erst einmal nach den anderen Kindern sehen. Später komme ich noch einmal zu euch«, versprach der Arzt.
Er ging von einem Zimmer zum anderen. Mit zweiundzwanzig Kindern war die Station voll belegt. Einige mußte Dr. Mettner trösten. Anderen gab er Ratschläge, wieder andere, die übermütig geworden waren, mußte er bremsen.
Zum Schluß trat der Arzt in das Zimmer, in dem die siebenjährige Claudia von Bodenstedt lag. Das kleine Mädchen sollte am übernächsten Tag wegen eines Tumors im Kopf operiert werden.
Die Würde, mit der sie ihr Schicksal ertrug, hatte den Arzt immer tief beeindruckt. Er führte die Gelassenheit, mit der die Kleine das Unabänderliche hinnahm, auf den