»Aber Papa«, wollte Ute ihren Vater unterbrechen.
»Laß mich bitte zu Ende sprechen«, entgegnete der jedoch auf seine ruhige und zugleich bestimmte Art. »Ich als Lehrer kann Pläne machen. Bei einem Arzt ist das etwas anderes. Ein Arzt kann nie genau planen. Er muß da sein, wenn seine Patienten ihn brauchen. Das wußtest du, als du deinen Mann geheiratet hast, Ute. Jetzt darfst du dich auch nicht beschweren«, ermahnte der alte Herr seine Tochter.
Ute seufzte tief auf, bevor sie antwortete. »Ich habe ja auch immer sehr viel Verständnis aufgebracht, Papa. Aber was zuviel ist, ist einfach zuviel. Es gibt doch nicht nur die Klinik. Inka, Ramona und ich sind auch noch da.«
»Ute, du tust gerade so, als ob ich meine Familie vernachlässigen würde«, wehrte sich Dr. Mettner.
»Manchmal habe ich tatsächlich den Eindruck, daß die Klinik dir wichtiger ist als deine Familie«, erwiderte seine Frau.
»Jetzt bist du aber wirklich sehr ungerecht, Ute. Ich gebe zu, daß ich während der vergangenen Wochen sehr eingespannt war. Aber meinen Kollegen und Kolleginnen ging es nicht anders als mir. Die schwierigen Fälle häuften sich in letzter Zeit. Dazu kam, daß Dr. Küsters im Urlaub war und Dr. Olegra wegen einer Virusinfektion ausfiel. Aber es dauert doch nicht mehr lange, bis sich alles wieder normalisiert«, versicherte Dr. Mettner seiner Frau.
»Siehst du, Ute«, sagte seine Schwiegermutter, »habe noch ein wenig Geduld. Bald wirst du wieder mehr von deinem Mann haben.«
Ute seufzte tief auf. »Hoffentlich«, antwortete sie, aber ihr Gesichtsausdruck blieb skeptisch.
Ihr Vater klopfte seine Pfeife in einem großen gläsernen Aschenbecher aus, der auf dem Gartentisch stand. Dann meinte er: »Es ist also so, daß Klaus nicht mit an die Ostsee kommen kann. Daran läßt sich leider nichts ändern. Ich schlage vor, daß du uns trotzdem mit den Kindern für ein paar Tage besuchst, Ute.«
Ute blickte auf ihren Mann. »Was meinst du dazu, Klaus?« erkundigte sie sich.
»Ich bin ganz dafür«, erwiderte der Arzt.
Ute wandte sich wieder ihrem Vater zu.
»Also gut, Papa. Dein Vorschlag ist angenommen.«
»Das freut mich aber, Ute«, rief ihre Mutter ganz spontan aus. »Wir werden bestimmt eine herrliche Zeit zusammen haben. Im Grunde könnten wir doch gleich morgen früh fahren. Soviel ich weiß, bist du morgen in der Klinik, nicht wahr, Klaus?«
»Ja, Mutter. Ich habe morgen Sonntagsdienst«, bestätigte Dr. Mettner.
»Also gut, dann machen wir uns doch nach dem Frühstück auf den Weg«, entgegnete seine Schwiegermutter.
Am nächsten Morgen frühstückte die Familie auf der Terrasse. Inka und Ramona bekamen Kakao. Die Erwachsenen tranken Kaffee. Ute hatte Brötchen aufgebacken, deren Duft verführerisch in die Nasen stieg. Dazu gab es Kuchen, der von der Geburtstagstafel übrig geblieben war.
»Was ist denn mit dir los, Inkalein? Du ißt ja gar nichts«, meinte Utes Vater, als er sah, daß seine Enkelin den Kuchen, der auf ihrem Teller lag, unberührt ließ.
»Ich habe heute überhaupt keinen Hunger, Opi«, antwortete Inka und schob ihren Teller ein wenig zurück.
»Du bist doch wohl nicht etwa krank, Inka?« sorgte sich ihre Großmutter und legte ihr sogleich eine Hand auf die Stirn. »Fieber hast du zumindest nicht«, stellte sie fest.
»Das ist bestimmt die Aufregung vor der Reise«, meinte ihr Mann.
»Aber das Kind muß doch etwas frühstücken«, wandte Ute ein. Sie strich ihrer kleinen Tochter über das Haar. »Iß wenigstens das kleine Stückchen Kuchen auf deinem Teller auf, Inka. Oder möchtest du lieber ein Brötchen haben?« erkundigte sie sich.
»Nein, kein Brötchen«, antwortete Inka. Sie biß ein winziges Stückchen von dem Kuchen ab und erklärte dann: »Ich habe wirklich überhaupt keinen Hunger.« Ihre Stimme klang auf einmal seltsam weinerlich.
»Vielleicht ist sie wirklich krank«, sagte Ute zu ihrem Mann.
»Komm mal her, kleine Maus«, forderte der Arzt seine Tochter auf.
Inka sprang von ihrem Stuhl auf und setzte sich ihm auf den Schoß. »Tut dein Hals weh, wenn du schluckst?« erkundigte sich Dr. Mettner.
Sein Töchterchen schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht, Papi«, erwiderte sie.
»Zeige mir trotzdem mal deine Zunge«, bat der Arzt.
Inka machte den Mund auf und streckte ihre Zunge hervor.
Ihr Vater sah ihr in den Mund. »Da kann ich nichts feststellen, Inka. Aber wie ist es, wenn ich hier drücke?« fuhr Dr. Mettner fort, während er vorsichtig auf Inkas kleinen Bauch drückte.
»Das tut auch nicht weh, Papi«, verkündete Inka.
»Fieber hast du auch nicht, wie die Omi schon festgestellt hat. Dein Hals und dein Bäuchlein sind in Ordnung. Wahrscheinlich hast du einfach keinen Appetit. Ist es das?« fragte Dr. Mettner seine kleine Tochter.
Inka nickte. »Ja, Papi«, bestätigte sie.
Ihr Vater gab ihr einen kleinen zärtlichen Klaps. »Dann setz dich wieder auf deinen Stuhl, kleine Maus«, bat er.
Inka sprang von seinem Schoß und nahm wieder auf ihrem Stuhl Platz. Dr. Mettner blickte auf seine Frau. »Es ist tatsächlich nur die Aufregung. Mach dir keine Sorgen, Ute.«
»Na gut. Ich streiche für Inka ein Brötchen. Das kann sie dann unterwegs essen«, erklärte Ute.
Eine halbe Stunde später beendete die Familie das Frühstück. Ute wollte danach den Tisch abräumen. »Laß nur, das mache ich schon«, meinte ihr Mann jedoch.
»Aber du mußt doch in die Klinik, Klaus«, entgegnete Ute.
»Mein Dienst fängt erst um zehn Uhr an. Oder traust du mir nicht zu, daß ich die Sachen ordentlich wegräume?« fragte Dr. Mettner lächelnd.
»Ich weiß doch, was für einen guten Hausmann du zur Not abgibst, Klaus«, antwortete Ute.
Ihr Mann küßte sie auf die Stirn. »Jetzt bringe ich erst einmal das Gepäck ins Auto«, erklärte er.
Als er jedoch gleich darauf sah, was seine Töchter alles mitnehmen wollten, protestierte er. »Inka, Ramona, ihr könnt doch nicht alle Puppen samt Kleidung mit an die Ostsee schleppen.«
»Unsere Puppen brauchen aber auch Luftveränderung, Papi«, erklärte Ramona.
»Und die Puppenbetten wollt ihr auch mitnehmen?« rief der Arzt.
»Wo sollen unsere Puppen denn sonst schlafen, Papi?« fragte Ramona.
Dr. Mettner gab es auf und verstaute alles so gut, wie es ging, in dem großen Auto seines Schwiegervaters, Um Punkt neun Uhr war seine Familie bereit zur Abreise. Dr. Mettner verabschiedete sich zuerst von seinen Schwiegereltern, küßte dann seine Kinder und schloß schließlich seine Frau zärtlich in die Arme.
»Paßt gut auf euch auf«, bat er mit leiser Stimme.
»Das verspreche ich dir. Und du besuchst uns wirklich am Wochenende?« fragte Ute noch einmal.
»Ganz bestimmt.«
Ute stieg in den Wagen. Sie setzte sich zwischen ihre Kinder auf die Rücksitze.
»Ist es euch auch nicht zu eng?« erkundigte sich Dr. Mettner besorgt.
»Es ist gerade noch auszuhalten. Das Auto ist ja groß, und bis zur Ostsee ist es nicht allzu weit«, erwiderte Ute.
Gleich darauf ließ ihr Vater den Motor an. Der Wagen rollte die Straße hinunter. Dr. Mettner wartete, bis er auf die Dorfstraße eingebogen und nicht mehr zu sehen war.