Sie schob die Erinnerung fort und hob ein dünnes Tuch hoch, das ihr einst als Taschentuch gedient hatte. Darunter lag eine Stoffpuppe mit dunklen langen Haaren und einem grauen, abgenutzten Gewand. Das trübe Nachmittagslicht fiel auf ihren ausgeblichenen Mund und die blau gestickten Augen. Die Puppe lächelte.
Aelia nahm sie, presste sie an sich. Sie strich über den dünnen Stoff des Puppengewandes, kraulte das wollige Haar. Lange hielt sie Justi an sich gepresst, während die Erinnerungen sie überfluteten wie ein Wasserfall, der ins Tal stürzte. Sie sah einen schlanken Frauenrücken, der sich über eine Näherei beugte.
»Nun lass sie doch hier, ich will es anprobieren«, hatte die sanfte Stimme ihrer Mutter gemahnt. Aelia sah zu ihr auf und drückte Justi fest an sich. Ihre Mutter seufzte. »Wie soll es ihr jemals passen, wenn ich es nicht mal anhalten darf?« Ihre schlanken Hände hielten eine kleine graue Tunika in die Höhe. Da hatte Aelia ihrer Mutter die Puppe gegeben.
Aelia presste ihr Gesicht in den abgenutzten grauen Stoff des Puppengewandes und roch den muffigen Geruch, der von ihm ausströmte. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Wünsch mir Glück, Justi.
Widerwillig legte sie die Puppe zurück in das Kästchen, schloss es und schob es an seinen Platz zurück, tief unter ihre Pritsche. Ihr Taschentuch aber nahm sie an sich und hielt es fest in ihrer Hand. Es würde ihr beim Kampf Glück bringen. Lange kauerte sie vor ihrer Pritsche, hilflos in den Klauen ihrer Erinnerungen, als ihr Blick auf den Fußboden unter Eghilds Bett glitt und an einem unebenen Dielenbrett hängen blieb. Dort lag also Eghilds Schatz.
Sie hatte sich immer gefragt, wo die Barbarin ihn aufbewahrte. Sie kroch unter die Pritsche und hob das Brett, das sich mühelos aus dem Boden lösen ließ. In der dunklen Öffnung, die sich vor ihr auftat, sah sie ein helles Stoffbündel. Es war so klein, dass sie es in ihrer Faust bergen konnte. Sie kroch zurück und setzte sich auf ihr Bett, um es im hereinfallenden Tageslicht zu betrachten. Auf dem weißen Tuch des Bündels prangte ein schwarzes eingesticktes Zeichen.
Aelia lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ob es ein Schutzzeichen war? Würde sie ein Fluch treffen, wenn sie das Bündel auswickelte?
Sie überwand sich und faltete es auseinander. Auf ihm lag ein Haarbüschel, das mit einem goldenen Ring zusammengehalten wurde. Er trug einen schwarzen Stein mit dem Bildnis eines alten römischen Gottes. Aelia hatte sein Abbild schon einmal gesehen, aber sie wusste nicht mehr wo. Behutsam strich sie über das glänzende Gold, und Neid bohrte in ihr.
Sie selbst hatte nie etwas so Wertvolles besessen. Sie dachte an die schlanken, kräftigen Hände ihrer Mutter, roch den Geruch nach Eintöpfen und gegrilltem Fleisch, die von der Garküche heraufstiegen in ihre Kammer, die sie sich mit ihrer Mutter geteilt hatte. Ihre Mutter hatte keine Ringe getragen. Ihre Tuniken waren aus farblosen, einfach gewebten Stoffen gewesen. Ein schlichtes Kopftuch bedeckte ihr Haar. Das Einzige, was ihre Mutter an Schmuck besaß, war eine Glasperlenkette, ein Lederband mit drei schlichten, blau bemalten Perlen, die über den Fußboden hüpften, als das Band entzwei riss.
Aelia spürte, wie sich alles in ihr zusammenkrampfte. Was tat ein Barbarenmädchen mit einem alten römischen Ring? Er war so groß, dass er Eghild unmöglich passen konnte. Eher gehörte er an den Finger eines Mannes. Vielleicht war er ein Beutestück aus den Plünderungen der Stadt und in die Hände der Barbaren gelangt, nachdem sie unschuldige römische Bürger ermordet und bestohlen hatten. Dieser Ring hatte zweifellos einem Römer gehört. Er gehörte nicht Eghild.
Aelia schloss ihre Faust um den Ring. Wenn sie schon ein Opfer bringen musste, indem sie Justi hier zurückließ, dann würde Eghild auch eins bringen müssen. Es hatte sie genug Überwindung gekostet, sich wochenlang mit der Fränkin, deren Stamm vielleicht zu jenen gehörte, die die Stadt so oft überfallen und geplündert hatten, einen Verschlag zu teilen. Auch ihr eigener Vater war ein Franke, und seine Vorfahren stammten aus denselben fränkischen Gebieten jenseits des Rhenus wie Eghilds Familie. Ihr Vater, der niemals zurückgekommen war.
Aelia gab einen wütenden Laut von sich, ehe sie Eghilds Tuch zusammenfaltete und es in die Öffnung zurücklegte. Sie verbarg den Ring zwischen ihren Brüsten unter den Leinenbinden, wo er nicht auffiel. Dann ging sie ins Bett.
Im Morgengrauen erwachte sie durch ein Geräusch. Sie schlug die Augen auf und sah den Schatten von Eghilds kahlem Kopf über sich gebeugt. Mit beiden Händen packte die Barbarin ihren Hals und drückte zu.
»Wo ist der Ring?« Eghilds Stimme klang drohend wie der dunkle Wintertag, der draußen heraufzog. Aelia kämpfte ihren Schrecken nieder.
»Welcher Ring?«, presste sie durch die schmaler werdende Öffnung ihres Halses hervor.
»Du wissen, was ich meine. Wo ist er?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst!«
Aelia zog die Schultern hoch. Ihre Hände schlugen gegen die Unterarme der Barbarin. Eghild schrie auf, ließ aber nicht los.
Sie schwang sich auf Aelias Bett, setzte sich auf sie.
»Der Ring unter meinem Bett. Du ihn gestohlen!«
Fester umklammerten Eghilds Hände Aelias Hals.
»Ich habe nichts gestohlen!«
»Du lügen! Diebin! Du ihn mir zurückgeben!«
Aelia wurde der Hals eng. Das Gewicht Eghilds – obwohl diese mager und leicht war – lastete auf ihrem Leib, sodass sie kaum noch Luft bekam. Bei allen Göttern, die Barbarin durfte nicht erfahren, wo der Ring war!
Sie ballte ihre Fäuste. Mit ihrer freien Hand holte sie aus, um Eghild an der Stirn zu treffen, doch diese bemerkte es und wehrte den Schlag ab. Aber sie musste die Hand fortnehmen und ihren Griff lockern, sodass Aelia die Hand von ihrem Hals wegschlagen konnte. Sie rang nach Luft, holte erneut aus, und dieses Mal war sie schneller. Sie traf Eghild an der Schläfe.
Der Kopf der Barbarin taumelte, fiel vornüber, ihr Körper sank auf Aelia zusammen. Schreck durchfuhr Aelia. Sie schob das kraftlose Mädchen weg und bettete sie auf ihre Pritsche, dann erhob sie sich keuchend. Im grauen Morgenlicht sah sie, wie Eghild bleich und mit geöffnetem Mund dalag, und die Angst packte sie. Hilflos stand sie ein paar Atemzüge lang da. Dann entschied sie sich, das zu tun, was Gnaea immer zu tun pflegte, wenn sie krank war – sie fühlte Eghild die Stirn. Die Haut war warm und feucht vom Schweiß, aber Eghild rührte sich nicht. Aelia konnte nicht erkennen, ob sie noch atmete.
Oh nein, bitte lass sie nicht tot sein. Wenn sie stirbt, darf ich nicht kämpfen und Dardanus wird mich verkaufen. Oder – schlimmer noch – sie werden mich als Mörderin vor den Toren der Stadt aufhängen. Sie beugte sich über Eghild, schlug ihr sanft mit der Handfläche auf die Wangen. Nichts regte sich im bleichen Gesicht der Barbarin. Wenn sie noch lebte, dann ging ihr Atem so flach, dass es nicht zu sehen war.
»Eghild, wach auf!«
Aelia war den Tränen nahe. Da schlug Eghild die Augen auf. Ihre Hand fuhr Aelia in den Nacken, packte sie fest, während sie ihr die Faust ins Gesicht hieb. So überraschend kam der Schlag, dass Aelia keine Zeit mehr blieb, sich zu wehren. Sie schnappte nach Luft, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Ein weiterer Stoß traf sie zwischen die Rippen, und sie merkte noch, wie sie auf den Boden fiel, ehe sie ohnmächtig wurde.
Als sie wieder erwachte, blickte sie in Hilarius’ sorgenvolles Gesicht. Sie lag nicht mehr auf dem Boden, sondern in ihrem Bett. Der Haussklave tupfte ihr mit einem nassen Tuch die Stirn ab. Eghild war nicht mehr da.
Aelia stöhnte. Sie hatte das Gefühl, über ihrem Auge türmte sich ein Berg auf. Sie tastete nach ihrer Stirn, fühlte die weiche Schwellung, spürte Schmerz an der Stirn und zwischen ihren Rippen.
»Wo ist sie?«
Sie versuchte, sich aufzurichten, doch Hilarius drückte sie sanft zurück. Er tauchte das Tuch in einen Wassernapf, betupfte erneut