Der Tod in der Salzwiese. Sibyl Quinke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sibyl Quinke
Издательство: Bookwire
Серия: Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958131729
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steuern auch direkt auf die Zugspitze zu.« Dabei tippte sie mit dem Zeigefinger auf ihre Stirn, um zu verdeutlichen, was sie von seiner Antwort hielt.

      »Wieso glaubst du mir nicht?«

      »Veräppeln kann ich mich selbst – Alpenvögel in der Nordsee!«

      »Nein, wirklich!«

      »Soso … Warum soll ich dich ernst nehmen?«

      »Weil ich seit Neustem Ornithologe bin? – Nein, Lilli, schau, dort neben der Treppe ist ein Schild mit den hiesigen Vögeln, und da sind sie abgebildet und die Namen dazugeschrieben. Du musst mir nicht glauben, du kannst es selbst lesen.«

      Das mit den Vögeln hatte sich geklärt. Die Poller hörten auf, ein Blick zurück zum Festland zeigte eine flache Ebene mit zahlreichen Windrädern. Auf der anderen Seite gab sich Bresniak dem endlosen Horizont hin, der nur durch ein einzelnes Schiff unterbrochen wurde. Die Überfahrt war kurz, dauerte nicht viel mehr als eine Stunde. Es war jedoch lange genug, um sich auf die Sandbank zu konzentrieren, die sich über die Jahrhunderte zu einem Kleinod in der Nordsee gemausert hatte. Eine leichte Anhöhe, für Norddeutsche ein Berg, für Menschen aus dem Bergischen Land bestenfalls ein Hubbel, den sie gar nicht wahrnahmen, alles bedeckt mit einem sanften Grün.

      Die Fahrt hatte etwas von autogenem Training, bei dem sich die meisten Gäste einer mentalen Entspannung hingaben. Die Beförderung dauerte an und schien bereits etwas von dem Zauber zu haben, der Töwerland seinen Gästen bot. Viele Passagiere öffneten erst wieder die Augen, als sie scheinbar in einer anderen Welt angekommen waren. Einzelne dünne Birkenstämme markierten die Einfahrtsrinne, die den Weg ins Ziel führten. Nur einer der Gäste schien nervös zu sein. Er stand an der Reling, nahe bei Lilli.

      Sein Blick schweifte von der einen zur anderen Seite, er trat von einem Fuß auf den anderen, wobei Lilli die senfgelbe Cordhose und die braunen Loafers von Gucci auffielen. Dazu trug er einen gleichfarbigen Schal, den er um den Hals gewickelt hatte und der Wärme versprach, über einer geölt glänzenden Windjacke. Er schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Erst steckte er sie in die Jackentaschen, um sie gleich wieder herauszuholen. Dabei fiel ihm klackernd sein Smartphone heraus.

      Er war so sehr mit sich und seinen Gedanken beschäftigt, dass er dieses Missgeschick gar nicht wahrnahm. Er wischte sich über die unrasierten Wangen und versuchte, die Haare aus dem Gesicht zu streichen, was angesichts des Windes eher einer Sisyphusarbeit gleichkam. Er drehte sich um, schaute auf das Schiff, so als wenn er nach einem bekannten Gesicht Ausschau hielt, und dann wieder auf das Meer. Entspannung sah anders aus. Lilli war allein vom Zuschauen genervt. Und jetzt noch das Handy, das unbeachtet an seinen Füßen lag. Lilli fühlte so etwas wie Verantwortung. Sie stand auf, hob das Gerät auf und reichte es ihm. Vielleicht würden ein paar Worte helfen, ihn zu beschwichtigen. Er war der Einzige an Bord, der eine solche Unruhe ausstrahlte.

      »Welcher Geist hat Sie gepackt und treibt Sie auf die Insel?«

      »Wieso?«, erhielt Lilli eine mürrische Antwort.

      »Sie machen nicht den Eindruck eines Inselurlaubers oder eines Insulaners.«

      »Sieht man mir das so an?« Er erschien irritiert ob des Eindruckes, den er hinterließ.

      »Na, Sie sind der Einzige, der nicht entspannt auf einer der Bänke sitzt, vor sich hin träumt, liest oder sich sonst irgendwie der Luft und dem Wind hingibt und nicht einmal bemerkt, dass ihm etwas aus der Tasche fällt – irgendwie verspannt.«

      »Ja, verspannt. Das stimmt. Deshalb fahre ich auch nach Juist, oder Töwerland.« Diese Ansprache oder die Konzentration auf das Gespräch mit seiner Mitreisenden schien ihn schon ein wenig ruhiger gemacht zu haben.

      »Töwerland, ein schöner Name für ein solches Eiland. Waren Sie schon öfter hier?«

      »Ja, es ist eine Insel zum Entspannen …« Die weiteren Worte blieben ungesagt, und Lilli erschien es besser, nicht tiefer zu bohren. Die kurze Gesprächspause animierte ihn, von selbst weiterzusprechen: »Ich bin oder war schon öfter hier, manchmal auch nur für ein verlängertes Wochenende …« Seine Augen richteten sich nach innen, als wenn er etwas mit sich auszumachen hätte. »Die Insel tut gut. Vielleicht habe ich zu lange gewartet, um wieder hinüberzufahren, und wirke deshalb auf Sie überreizt.«

      »Ich kann nicht sagen ‚überreizt‘. Aber sie fallen auf zwischen den Gästen.« Diese Aussage schien ihm nicht zu gefallen. Er umgriff die Reling so fest, dass die Knöchel sich weiß färbten, und atmete tief durch. Er schien sich in seine Gedanken zu hüllen.

      Lilli berührte ihn leicht an seinem Ärmel. »Es wird schon. Juist wird Ihnen guttun.« Das Gespräch erstarb und schien eine wortlose Fortsetzung zu finden, bis das Nebelhorn der Frisia die Ankunft im Juister Hafen ankündigte. Nach der etwa 90-minütigen Passage entstand Bewegung zwischen den Gästen. Ruhig und ohne Hektik packten sie ihre Sachen zusammen, meist in Rucksäcke. Langsam verließen die Menschen die Fähre, schoben sich zum Ausgang. Sie betraten die Sandbank, die nach der Eiszeit entstanden war und dann langsam als Insel aus dem Wattenmeer herauszuragen begann und sich heute mit genügsamen Pflanzen begrünte. Dieses Stück Land begrüßte nur Übernachtungsgäste, dort, wo es nur Fahrräder und Pferdekutschen als Fahrzeuge gab; die einzigen Autos auf dem Eiland gehörten dem Rettungsdienst, den beiden Inselärzten und der Feuerwehr.

      Ja wirklich, es war Zauberland. Schon die Ankunft hatte die Neuankömmlinge oder Heimkehrer zu anderen, ausgeglichenen Menschen gemacht. Ihren Gesprächspartner verlor Lilli aus den Augen.

      Bresniak bezahlte bereits im Hafengebäude die Kurtaxe und ließ sich eine Karte geben, mit einer kurzen Erklärung, wie sie ihre Unterkunft finden würden. Ein kurzer Weg: Vorbei am Kurplatz mit seiner Konzert-Muschel und dem Schiffchen-Teich, links abbiegen, vorbei am Hotel Atlantic, und kurz dahinter strahlte die weiße Villa Charlotte in der Sonne. Sie waren angekommen. Die Tür stand einladend offen, und Frau Extra begrüßte ihre Gäste.

      Sie hatten ihr Zimmer bezogen, die Koffer standen noch unausgepackt vor den Betten. Bresniak musterte das Ambiente. Es sagte ihm zu. Nicht überkandidelt, eher bodenständig ordentlich. So langsam kam auch seine Seele an und war bereit, sich auf dieses Eiland einzulassen.

      »Na, schlimm?«, fragte Lilli, »meinst du, du könntest mit mir die Ferien hier aushalten?«

      »Wo du bist, kann ich es immer aushalten.« Er umarmte sie, drückte sie heftig, hielt sie fest und ließ sich mit ihr auf das Bett fallen …

      Der Morgen versprach einen schönen Tag. Noch war es diesig. Die meisten Feriengäste saßen beim Frühstück und schauten neugierig durchs Fenster. Was würde der heutige Tag bringen? Die Sonne machte sich schon bemerkbar, und man spürte, dass sie bald die Oberhand über die Wolken gewinnen würde. Das war das Wetter für Entspannung pur: Einen Strandspaziergang, und für Hartgesottene versprach es auch ein Bad im Meer.

      Bresniak hatte sich seine Leggins angezogen, die er immer zum Joggen trug, ein dickeres T-Shirt – er traute der Septembersonne nicht so recht – und ein Stirnband, dazu seine Laufschuhe. Er wollte sich erholen, total, und auch etwas für seine Fitness tun. So ein Läufchen würde ihm guttun, es musste ja nicht gleich am Meer sein, wo man nie wusste, ob man nicht wieder von Tümpeln zurückgebliebenen Meerwassers ausgegrenzt würde – so hatte er das Meer in Erinnerung. Er wäre viel lieber in den Schwarzwald gefahren, aber von dieser Idee war Lilli überhaupt nicht zu begeistern gewesen. Sie hatte sich Juist in den Kopf gesetzt.

      Diese Insel musste es sein, und er mochte die Nordsee überhaupt nicht. Er erinnerte sich an einen Urlaub, den er vor Jahren in Hage verbracht hatte. Dazu hatte ihn auch eine Frau überredet hinzufahren. »Das Meer, das Meer ist einzigartig, du wirst es lieben lernen!« – Nur was hätte er lieben lernen sollen? Immer wieder hatte er das Meer vergeblich gesucht. Immer wieder, wenn sie zur Küste gefahren waren, gab es zwar Wind, aber das Wasser hatte sich zurückgezogen. Es war Ebbe. Ihm bot sich nur Matsche. Wie man sich dafür begeistern konnte, war ihm schleierhaft. So kam für ihn damals auch keine Wattwanderung infrage. Nun, erholt hatte er sich dennoch: Er hatte viel gelesen und Tee getrunken,