Mühsam riss Tom seinen Blick von mir los. »Ach, der Kerl will unsere Wunderdroge kaufen.«
Marc runzelte die Stirn. »Aber ihr seid doch noch gar nicht soweit, ein Patent anzumelden, oder?«
»Na eben«, nickte Tom. »Das will er ja machen.«
»Wovon redet ihr denn da?«, wollte ich wissen.
»Kommt mit«, forderte Tom uns auf. »Ich zeig’s euch.«
Tom führte uns in ein Labor, in dem auf mehreren Tischen Käfige mit Ratten standen. Er deutete auf einen der Käfige. »Seht sie euch an. Sie rammeln! Sie rammeln den ganzen Tag und die ganze Nacht, es ist unglaublich.«
Ich versuchte, zu begreifen. »Ihr habt ein Potenzmittel entdeckt? Viagra für Ratten?«
Tom lachte auf. Er ging an einen Kühlschrank und holte ein verschlossenes Reagenzglas mit einer leicht grünlich schimmernden Flüssigkeit heraus. »Gegen meine Wunderdroge ist Viagra Kinderspielzeug. Mein Stoff kann viel mehr.« Er deutete wieder auf die Ratten. »Ein bisschen davon ins Futter, und zehn Minuten später fallen sie übereinander her. Wie auf Knopfdruck. Viagra fördert nur die Durchblutung der Schwellkörper im Schw... im Penis. Meine Wunderdroge macht nymphoman.«
Tom trat an einen Tisch, auf dem ein Notebook und einige Stapel Papier lagen. Er griff sich ein Bild, das den Scan eines Rattengehirns darstellte, soweit ich das sagen konnte. Mehrere Regionen darin waren blau, rot und weiß eingefärbt. Es sah ganz ähnlich aus wie die Ergebnisse der MRT-Untersuchungen, die wir an unseren Probanden durchführten.
Marc nahm das Papier interessiert entgegen. »Ist das der Hypothalamus?«, vergewisserte er sich. »Eine so starke Aktivität habe ich noch nie gesehen.«
»So eine Aktivität hat noch niemand von uns vorher gesehen«, antwortete Tom. »Die Werte gehen durch die Decke. Wisst ihr, was das bedeutet?«
»Die Ratten sind sexuell erregt, wenn sie deine Droge nehmen?«, vermutete ich. Ich wusste, dass der Hypothalamus bei Menschen unter anderem an der sexuellen Erregung beteiligt war.
»Sexuell erregt sind sie, wenn sie kopulieren«, verbesserte Tom. »Wenn sie meine Droge nehmen, haben sie den Trip ihres Lebens! Sie sind high, sie haben einen Dauerorgasmus!«
Tom breitete beide Arme aus. »Kapierst du jetzt? Ich sage ja, Viagra ist Kinderkram dagegen.«
»Bei Ratten«, wandte Marc ein. »Wir haben keine Ahnung, wie es auf Menschen wirkt.«
Tom winkte ab.
»Und was hat das jetzt mit dem Anzugträger zu tun?«, wollte Marc wissen.
»Der vertritt so eine Pharmafirma. ›Libido Chemicals‹ oder so ähnlich. Die müssen auf der Konferenz kürzlich mitbekommen haben, wie ich darüber einen Vortrag gehalten habe, während du in Barcelona warst.«
»Aber ihr wolltet es doch geheim halten?«
»Ich hab ja nicht erzählt, was drin ist, nur dass wir etwas gefunden haben. Die Forschungsgelder müssen fließen, da muss man auch mal angeben. Jedenfalls belagert uns der Kerl seitdem. Er will, dass wir seiner Firma all unsere Ergebnisse verkaufen und wir auch alle zukünftigen Ergebnisse nur ihm schicken. Er hat eine Menge Geld dafür geboten.« Tom beugte sich nach vorn und senkte die Stimme. »Er hat sogar versucht, uns zu bestechen.«
»Ernsthaft?«, fragte Marc.
Tom nickte. »Eben grade. Eigentlich war Hammond kurz davor, das Angebot anzunehmen. Oder zumindest sich bei der Institutsleitung dafür einzusetzen. Allein entscheiden darf er das ja nicht. Ich habe gesehen, wie es im Kopf des Alten gearbeitet hat. Mit dem Geld, das die geboten haben, hätte er so viele andere Forschungsprojekte über Jahre finanzieren können. Und da sagt der Typ plötzlich, dass man das auch unter der Hand lösen könnte und dass auch privat für uns beide was rausspringen kann. Da ist der Alte ausgeflippt. Das Ergebnis habt ihr ja mitgekriegt.«
»Wieso ist diese Firma so versessen darauf«, fragte ich, »wenn die Droge noch nicht mal an Menschen getestet worden ist? Man weiß doch, dass viele Mittel nie über eine erste klinische Studie hinauskommen.«
»Ja, aber wenn es klappt, ist das eine sexuelle Revolution«, erwiderte Tom mit leuchtenden Augen. »Viagra hat alten Männern geholfen, wieder Sex zu haben. Aber mit diesem Mittel werden die Menschen nymphoman, high und potent. Und es wirkt auch bei Frauen, sogar noch stärker als bei Männern. Stellt euch das nur mal vor! Man könnte es als Aphrodisiakum verwenden, man könnte es vor dem Sex nehmen, damit er intensiver wird. Oder denk mal an all die armen Männer, die eine frigide Frau zuhause haben, die ständig Migräne hat.«
Tom bemerkte wohl den Blick, den ich ihm zuwarf, und zuckte mit den Schultern. »Was denn? Wir Männer haben auch keine Ausrede mehr, seit es die blauen Pillen gibt.«
Marc ergriff mich am Arm. »Ich glaube, Isabelle hat eine ausreichende Dosis Tom für einen Tag bekommen. Soll ich dir mein Labor zeigen?«, bot er mir an.
»Klar.«
»He, Marc!«, rief Tom uns hinterher. »Chin und Ben geben heut Abend eine Party, kommt ihr auch?«
Marc sah mich fragend an. »Die beiden sind cool«, sagte er.
Ich nickte.
»Klar, wir kommen«, bestätigte Marc, ehe er mich aus dem Raum führte.
***
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, Menschen dabei zuzusehen, wie sie kopulierende Ratten beobachteten, Ratten kleine Helme aufsetzten, um ihre Gehirnaktivität zu messen, oder ihnen die Schädel öffneten, um Elektroden hineinzustechen. Aus rein beruflicher Sicht fand ich das alles sehr interessant, aber ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, dass ich die angenehmeren Versuchsobjekte hatte. Mit denen konnte ich reden, und ich musste auch niemandem ins Gehirn schneiden. Außerdem war es eine ideale Gelegenheit, junge, attraktive Menschen kennenzulernen, die für ein Date mit mir Schlange stehen würden.
***
Am Abend standen wir dann vor der Wohnungstür von Chin und Ben, klingelten und warteten, zur Party eingelassen zu werden. Als die Tür geöffnet wurde, fand ich dort, wo ich den Kopf unseres Gastgebers erwartet hätte, stattdessen einen Brustkorb vor, der die ganze Breite der Tür einnahm. Mein Blick wanderte weit nach oben, ehe er ein rundes Gesicht fand. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Vor mir stand ohne Zweifel der größte Mann, den ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Er überragte mich um mehrere Kopflängen und war sicherlich doppelt so breit wie ich. Seine Haut hatte die dunkelbraune Farbe von Zartbitterschokolade. Ein großer, runder und kahlgeschorener Kopf saß auf einem sehnigen Muskelberg, über den sich ein weißes Hemd und eine weiße Hose spannten.
Als er Marc erkannte, teilte sich der Mund des Riesen und legte zwei Reihen perfekt weißer Zähne frei. »Marc! Schön, dass du da bist«, rief er mit der Stimme von Gewitterdonner. Er streckte mir seine riesige Pranke hin. Meine Hand verschwand vollständig darin.
»Ich bin Ben«, stellte er sich vor.
»Isabelle.«
»Kommt rein!« Ben trat zur Seite, sodass wir gerade genug Platz hatten, im Wohnungsflur an ihm vorbeizugehen.
»Chin!«, rief er. »Marc ist da!«
»Supi!«, rief eine helle Stimme. Aus einer Tür hüpfte eine kleine, zierliche Frau mit asiatischen Gesichtszügen und langen pinken Haaren. Sie trug ein safrangelbes Top, einen grasgrünen Rock und darunter rote Strapse. Sie sprang auf uns zu, fiel Marc in die Arme und presste ihm einen Kuss auf die Lippen.
»Ich freu mich so, dich zu sehen!«
Dann schloss sie auch mich in die Arme und küsste mich geradewegs auf den Mund. »Du musst Isabelle sein! Ich hab schon viel von dir gehört.«
Ich hob fragend meine Augenbrauen. »Ja? Was denn?«
Chin winkte ab. »Ach, nicht so wichtig. Kommt mit rein, ich zeig euch alles. Ihr seid fast die Ersten.«
Ich