»Hallo?«, melde ich mich gedankenlos.
»Madame Pelletier, ich bin es noch einmal, Audric Brunault.«
Ach ja, Audric. Hartnäckig, wirklich hartnäckig, denke ich und hebe den gefüllten Wasserkocher auf seinen Standfuß.
»Ich sagte, nein, Monsieur Brunault, kein Klavierunterricht für Erwachsene.«
»Ach bitte, Madame Pelletier! Sie sind meine einzige Chance!«
Das entlockt mir dann doch ein Lächeln. »Nanu, gibt es seit Neuestem keine Klavierlehrer mehr in Paris außer mir?«
»Nein, nein, Sie verstehen das nicht. Bitte, nur eine Probestunde! Ich zeige Ihnen, dass ich ein großartiger Schüler sein werde. Sie werden es leicht haben mit mir, ich bin eben kein Kind mehr. Ich werde üben!«
Vielleicht ist es der Gedanke an Monsieur Frechat, der mich milde stimmt. Vielleicht kann ich es auch nicht ertragen, dass noch ein Mann, außer Luc an mir zerrt. Ich seufze. »Also schön. Eine Probestunde und das ist kein Ja, verstehen Sie das?«
»Oui, Madame Pelletier! Danke, danke!«
»Heute um sieben. Und bitte pünktlich!«
»Selbstverständlich und danke, danke, danke!«
Ich drücke auf den roten Hörer, gieße den Kaffee auf und summe dabei »À la claire fontaine«.
***
Die vormittäglichen Ballettstunden an der Académie schleppen sich so dahin, unterbrochen von kurzen Pausen, die ich im sonnigen Hof unter der alten Kastanie verbringe. Luc ruft zwei Mal an, aber ich drücke ihn weg. Erst auf dem Heimweg nehme ich seinen Anruf entgegen.
Inzwischen hat sich der Himmel mit dunklen Wolken bezogen und hier und da fällt ein Tropfen auf das Kopfsteinpflaster.
»Ich bin in Eile, Luc, was gibt es?«
»Warum gehst du nicht ran, Martha? Ich könnte sterbend in meiner Wohnung liegen und du drückst meine Anrufe weg!« Lucs Stimme klingt belegt und kratzig. Daher weht der Wind. Er ist krank. Mit einem Schlag bin ich ganz im Hier und Jetzt, bleibe stehen und drücke die Tüte mit dem Baguette, das ich vorhin gekauft habe ein wenig fester an meine Brust. Jetzt gilt es, auf der Hut zu sein.
»Du stirbst aber nicht und ich muss arbeiten.«
»Du musst gar nichts, Martha. Du müsstest nicht arbeiten gehen, wenn du wieder bei mir einziehen würdest. Und ich brauche dich jetzt. Mehr denn je.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Vielleicht ist es auch nicht mehr für lange.«
Ich sage dazu nichts und hole stattdessen tief Luft.
Luc ist nie krank, er ist sterbenskrank. Eine Erkältung ist für ihn immer eine Bronchitis, wenn nicht gar eine beginnende Lungenentzündung. Kopfschmerzen kommen auf keinen Fall vom übermäßigen Alkoholgenuss am Abend vorher, sondern sind mindestens ein Gehirntumor. Meist auch unheilbar.
»Martha? Bist du noch da?«
»Ich kann dich hören, Luc.«
»Martha, ich glaube, diesmal ist es etwas Ernstes. Das hatte ich noch nie. Mein Hals ... da ist etwas angeschwollen und meine Augenlider flattern. Wenn ich mich vorbeuge, dann habe ich das Gefühl, mir platzt der Schädel und dann noch das: Ein bellender Husten und es kommt grüner Schleim aus meiner Nase.« Er räuspert sich und hustet mir demonstrativ ins Ohr. »Martha, kannst du kommen?«, setzt er flüsternd hinzu.
»Nein, kann ich nicht und werde ich nicht. Wenn du krank bist, geh zum Arzt. Oder besser noch: Lös eine Aspirin in Wasser auf und trink das. Du wirst sehen, es hilft! Und jetzt entschuldige mich, ich habe noch Schüler.«
»Du bist eine grausame Frau. Ich weiß nicht, was ich an dir finde!«, schnieft er beleidigt ins Telefon.
»Das weiß ich auch nicht, Luc. Gute Besserung!« Ich atme aus. Es gab Zeiten, da habe ich an seinem Bett gesessen, jeden rasselnden Atemzug bewacht, der er tat. Angstvoll, sorgenvoll. Es hat eine Weile gedauert, bis ich Lucs Neigung zur Hypochondrie durchschaute. Tage, die ich mit ihm im Wartezimmer verschiedener Ärzte zugebracht habe. Jedes Mal kam er aus dem Sprechzimmer geschlurft mit der Miene eines Menschen, der gefasst dem Äußersten entgegensieht und einem augenrollenden Arzt, der hinter ihm den Kopf schüttelte. Töpfeweise habe ich Hühnersuppe gekocht und ihm dampfende Schüsseln ans Bett getragen. Das vermisse ich sicher nicht.
Und trotzdem ist da etwas in mir. Eine Sorge, die lauert, einen Punkt, den er in mir trifft. Was es ist, weiß ich nicht. Aber es ist etwas, mit dem ich mich nicht beschäftigen will und was ich wegschiebe.
In meiner Küche reiße ich hungrig das Baguette in Stücke und schlinge die Happen abwechselnd mit Salami herunter. Mein erster Schüler klingelt, als ich noch kaue. Es gibt sie schon, die stillen Stunden, in denen ich überlege, ob eine Rückkehr zu Luc nicht auch eine Möglichkeit ist, aber so schnell, wie der Gedanke durch meinen Kopf zieht, verwerfe ich ihn wieder. Lieber noch drei Schüler mehr, als jetzt halbstündlich seine durchgeschwitzten Laken wechseln.
***
Es ist kurz vor sieben, als ich den kleinen Maurice verabschiede und Schritte auf der Treppe höre, gerade, bevor ich die Tür schließen will.
Ach ja, Audric. Das muss er sein. Leichtfüßig und jung, zwei Stufen auf einmal nehmend. Er ist kaum außer Atem, als er schließlich auf meinem Treppenabsatz ankommt.
»Danke noch einmal, Madame Pelletier!«
Ich trete zur Seite und winke ihn hinein. Er nickt mir zu, senkt dann den Blick und schiebt seine runde Brille ein Stück die Nase hoch.
»Bonsoir, Monsieur Brunault.«
»Ach bitte«, er bleibt im Flur stehen und dreht sich zu mir um, »Audric. Sagen Sie Audric zu mir.«
»Also schön, Audric. Der Flügel steht im Wohnzimmer, immer geradeaus und dann um jede Ecke.«
Hastig und ein wenig schlaksig schiebt er sich um die Ecken und bleibt schließlich vor dem Instrument stehen, legt umständlich seine Schultertasche ab und zieht einige Blätter aus ihr hervor, bevor er sich auf den Hocker fallen lässt.
Schweigend setze ich mich auf den Stuhl daneben und lege die Hände in den Schoß. Fahrig dreht Audric an den Reglern, die die Höhe des Hockers verstellen. Er fährt hoch, dann wieder ein wenig herunter, legt die Hände auf die Tasten und nimmt sie wieder weg. Er wirft mir einen flüchtigen Seitenblick zu, dann rückt er noch einmal seine Brille zurecht.
»Madame Pelletier, ich würde den Walzer No 7 von Balakirev spielen.«
Für einen Moment bin ich überrascht. Das hatte ich nicht erwartet. »Tatsächlich?«, entfährt es mir und Audric nickt bekräftigend.
Ein nicht ganz leichtes Stück.
»Na, dann ...« Ich lehne mich ein wenig zurück.
Audric atmet tief ein und dann huschen seine Finger überraschend sicher und flink über die Tasten. Ich spüre, wie beim Spielen eine Anspannung von ihm abfällt. Seine schmalen Schultern werden lockerer, seine Ellenbogen lösen sich vom Körper. Und er spielt nicht einmal schlecht. Ein wenig langsam vielleicht, an einigen Stellen fehlt ihm die Fingerfertigkeit und ein wenig die Übung, aber alles in allem wirklich recht passabel.
Auf der dritten Seite unterbreche ich ihn. »Bien«, sage ich leichthin und lasse offen, ob ich sein Spiel meine oder einfach nur andeuten will, dass es jetzt reicht. Ich angele aus dem Notenstapel meinen heißgeleibten Ravel.
»Hier.« Ich beuge mich vor und stelle das Notenpapier auf den Ständer. Audrics Atem streift meine Wange. Kühl, jung und klar wie Frühlingsmorgen in den Tuilerien. Für einen winzigen Moment lang tut er mir leid, weil er so jung ist und weil alles noch so wichtig für ihn ist. Ist nicht genau das das Privileg der Jugend? Keine Prioritäten setzen zu müssen? Vielleicht ist es auch kein Mitleid, vielleicht ist es ein