Nie habe ich sie anders gesehen, als mit einem makellosen Haarknoten auf dem oberen Drittel ihres Hinterkopfes. Ich bin mir sicher, dass kein Haar es wagen würde, aus dem straffen Dutt zu entfleuchen, so, wie es auch keiner der kleinen Schwäne bei ihr wagt, aus der Reihe zu tanzen. Bei Agnès wird kein Kind müde, alle sind von einer angespannten Begeisterung gepackt, die ihre Augen glänzen lässt. Alles, was Agnès mit ihrer leisen strengen Stimme in den Raum gibt, erreicht sofort die kleinen Körper, die sich recken und straffen, wenn sie mit ihrem Finger auf sie deutet.
»Alors, und eins, sur le cou de pied, coupés, zwei, drei, vier, fünf, jeté und pas de bourée und passé, plié! Hört auf die Musik, hört auf den Takt. Marie, den Kopf nach rechts. Alle achten jetzt auf die Köpfe! Höher. Weiter, weiter ...«
Es ist nicht so, dass ich Agnès nicht mag, im Gegenteil, aber die Gegenwart ihres geraden Körpers, den ich mir beim besten Willen niemals und unter keinen Umständen zusammengesunken oder herumgefläzt auf einem Sofa vorstellen kann, macht mir immer ein schlechtes Gewissen. Ich fühle mich dann plump mit meinen breiten Hüften, dem für ihre Begriffe wahrscheinlich gigantischen Busen und meinen Beinen, die im Gegensatz zu den ihren über Waden und Schenkel verfügen.
»Und noch einmal. Vite, vite, ihr kleinen Schwäne! Martha, ein wenig schneller jetzt, bitte.«
Die Schwäne hüpfen noch eine weitere Stunde zu meinem Spiel munter durch den Saal, bevor sie flink Taschen und Jacken aufsammeln und von den älteren Schülerinnen abgelöst werden. Eben betritt Colette den Saal und wie immer, wenn sie hineinkommt, sind alle einen Augenblick lang still und gebannt.
Ich habe selten ein so schönes Mädchen gesehen, wie Colette und obwohl sie schon Anfang Zwanzig ist, hat sie sich diese langbeinige jugendliche Schönheit bewahrt, die eigentlich nur Mädchen zu Beginn ihrer Pubertät haben. Keine Frage, Colette ist ein zartes Reh. Bedauerlicherweise weiß sie das aber auch und büßt so, für mich jedenfalls, einen großen Teil ihres Charmes ein. Ich sehe ganz genau, dass sie ihren Auftritt genießt, aus den Augenwinkeln die Gesichter der Anwesenden nach Bewunderung absucht.
Agnès und ich sind die Einzigen, die sich diesem Schauspiel entziehen. Ich schaue angestrengt auf die Noten, die ich nicht brauche, aber die einfach irgendwie auf den Ständer gehören, und Agnès hat den Kopf zum Fenster gedreht.
Agnès klatscht zweimal in die Hände. »Zehn Minuten Pause. Colette und Blanche, macht euch schon mal warm. Colette, ich möchte heute keinen müden schwarzen Schwan sehen und Blanche, der weiße Schwan darf heute ruhig ein wenig liebenswürdiger sein. Alors!«
Agnès winkt mich mit spitzen Fingern durch den Saal und die Treppe hinunter auf den Hof.
Das machen wir manchmal. Wir rauchen überwiegend schweigend unter dem Blätterdach der alten Kastanie, seitdem man Agnès verboten hat, in ihrem Büro eine Zigarette anzuzünden, und fühlen dabei durchaus eine seltsame Art der Verbundenheit. Also ich fühle sie. Was Agnès fühlt, weiß ich natürlich nicht.
»Immer Schwanensee«, sagt sie und bläst den Rauch in Kringeln in den Himmel. Es hat inzwischen aufgehört zu regnen und ich nicke stumm dazu. Ich weiß genau, was sie meint.
Wir ziehen abwechselnd von unseren Zigaretten und drücken sie dann in den übervollen Aschenbecher an der Wand. Bevor wir nach oben gehen, legt sie mir zu meiner Überraschung einen ihrer knochigen Finger an die Wange. Kühl und liebevoll ruht er für den Bruchteil einer Sekunde auf meiner Haut, dann eilt sie behände vor mir die Stufen hinauf. Ich folge ihr bedeutend langsamer, mit der gefühlten Trägheit eines alten Kleppers.
***
Gegen vier liegt der Ballettsaal schließlich wieder still und ruhig wie ein schattiger Teich auf einer Waldlichtung im grauen Licht des angebrochenen Nachmittags.
Ich sortiere die Notenblätter sorgfältig auf einen Stapel und schließe die Tür hinter mir.
Lucs Anblick unten auf der Straße überrascht mich nicht. Ich hatte zwar nicht explizit daran gedacht, dass er auftauchen könnte, aber es ist nicht das erste Mal, dass er mich an einem Samstag im Torbogen erwartet, die Zigarette auf den Boden fallen lässt und mich dann ansieht, als hätte er mit mir, hier vor der Ballettschule, an der ich arbeite, am allerwenigsten gerechnet.
»Was willst du?«, frage ich und gehe zügig an ihm vorbei.
»Mit dir essen gehen und feiern.«
Eine Locke ist ihm in die Stirn gefallen und er wischt sie achtlos beiseite. Er sieht gut aus, denke ich, aber am schönsten sieht er aus, wenn er arbeitet und sich sein Rücken über den Flügel beugt. Dann hält er den Kopf schräg und sein rechtes Ohr dichter an die Tasten. Ich mag seinen Gesichtsausdruck, wenn er den Tönen nachspürt, als wären sie Agenten, die es in dunklen verwinkelten Gassen zu verfolgen gilt und die man keinesfalls auch nur eine Sekunde aus den Augen lassen darf.
Heute hat er sich für mich schön gemacht, das sehe ich sehr wohl. Er hat den hellen Trenchcoat an, den ich ihm geschenkt habe und die braunen Schuhe. Seinen Schal hat er so gebunden, wie ich es am liebsten mag und so, wie ich es ihm gezeigt habe.
»Ich bin müde, Luc, lass mich gehen.« Und als meine Worte gerade eben meinen Mund verlassen haben, weiß ich, das war ein Fehler. Vor Luc darf man keine Schwäche zeigen. Das nutzt er geradewegs aus und genau das mag ich nicht an ihm. Es ist, als würde man ein ohnehin verletztes Reh schießen und sich anschließend damit brüsten, obwohl es ja keine Kunst ist.
Deshalb beschleunige ich meinen Schritt.
Aber sofort holt er auf. »Eben, Martha, du bist müde. Viel zu müde, um zu kochen, und deshalb können wir zu unserem Lieblingsitaliener gehen. Lorenzo fragt immer nach dir. Er würde sich auch freuen, dich wiederzusehen.«
Luc greift nach meinem Arm, doch ich schüttele ihn ab, wobei ich merke, dass meine Bewegung halbherzig ist und mein Widerstand schwindet. Schon lange habe ich keine von Lorenzos Pizzen mehr gegessen und keinen ausgezeichneten Landwein aus der Emilia Romagna aus seinen alten Kristallgläsern getrunken.
»Martha!« Catherines Stimme pikst in meinen Rücken und ich war selten so dankbar, sie zu hören. Rasch drehe ich mich um. »Ah, Catherine, bonjour.«
»Kann ich dich sprechen?« Ihre Augen huschen zwischen Luc und mir hin und her. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber ihr scheint alles zwischen uns sofort klar zu sein.
»Sicher. Entschuldige mich, Luc. Ich habe noch zu tun.«
Catherine schiebt ihre Hand unter meinen Ellenbogen und führt mich wortlos um die nächste Straßenecke, als wäre ich blind. Dort lässt sie mich unvermittelt los und sieht mir kurz in die Augen. Ich schaffe es gerade eben noch, ein »Merci« zu murmeln, dann sehe ich dankbar ihrem blonden Dutt nach, der noch einen Moment lang über den Köpfen der Leute tanzt, bevor er im Gewühl verschwindet.
Sicherlich, sie weiß, dass Luc mein Ex-Mann ist und in groben Zügen auch, was zwischen uns passiert ist, trotzdem bewundere ich sehr, dass sie die Gabe hat, solche komplizierten Situationen im Nu zu durchschauen.
Über ein paar kleine Umwege laufe ich nach Hause und bin erleichtert, dass Luc weder vor der Haustür noch im Treppenhaus auf mich wartet. Im Flur meiner Wohnung lehne ich mich einen Augenblick gegen die Wand, bevor ich aus den Schuhen schlüpfe und meinen Mantel an die Garderobe hänge.
Luc hat schon recht, was meine Wohnung betrifft. Das Hinterhaus in der kleinen Rue de Chrevalout hat seine besten Zeiten hinter sich. Vor mehr als hundert Jahren war das ganze Gebäudeensemble sicher ein wahrer Prachtbau, heute zeugen nur noch die hohen Decken und der Stuck von seiner früheren Eleganz. Waren meine zwei Zimmer sicherlich einmal ein Teil einer viel größeren und herrschaftlichen Wohnung, ist es heute einfach ein verschnittenes kleines Apartment, in das sich nur im Sommer, wenn am Mittag die Sonne am Höchsten steht, ein Strahl Licht ins Wohnzimmer verirrt. Außerdem pfeift durch die morschen Holzfenster oft ein kalter Wind, der sich im Hinterhof