Audrics Körper strahlt Wärme aus und den unbestimmten Duft nach frischem Regen auf warmem Asphalt, anders kann ich es nicht beschreiben.
Ich spiele langsamer, als das Stück eigentlich gespielt gehört, um Audric die Chance zu geben, sich mit den Noten vertraut zu machen. Es ist nicht schwer, eigentlich müsste er es vom Blatt spielen können und doch holpert und stolpert er durch die Melodie. Ich runzele die Stirn und schließlich breche ich nach wenigen Takten ab.
»Wo ist das Problem?«, frage ich und Audric nimmt die Hände von den Tasten und zuckt mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, murmelt er schließlich nach einer langen Pause, in die die kleine Uhr auf dem Beistelltisch trotzig tickt.
Zögernd lege ich meine Hand auf seinen Arm. »Warum eigentlich der Klavierunterricht, Audric?«
»Ach ...« Er lässt den Kopf hängen und zuckt wieder mit den Schultern. »Es hat eh keinen Sinn.«
Ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll und brumme einfach nur unbestimmt und hoffentlich anteilnehmend.
Audric atmet schwer aus und gerade, als ich glaube, dass er etwas Entscheidendes sagen will, presst er seine Lippen fest aufeinander und schluckt, was auch immer er mir mitteilen wollte, einfach hinunter.
Einen Augenblick sitzen wir schweigend nebeneinander, dann sieht er auf und in seinem Blick liegt das zutrauliche Hoffen eines Welpen.
»Wird es reichen, Madame Pelletier?«
Fragt sich nur wofür. »Gerade ist eine Stunde freigeworden. Montagabend um sieben. Passt dir das, Audric?«
»Ja, das ist mir sehr recht!« Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und ich drücke ihm den Ravel gegen seine junge Brust.
»Hier. Üb das bis zur nächsten Stunde. Du überweist das Geld für die Stunden im Voraus. Wenn du weniger als vierundzwanzig Stunden im Voraus absagst, behalte ich das Geld für die ausgefallene Stunde, wenn du eher absagst, behalte ich die Hälfte.« Warum ich das sage, weiß ich nicht. Ich bin sonst nicht so streng.
»Sehr wohl, Madame.«
»Guter Junge und jetzt geh.« Monsieur Frechat kommt übermorgen und ich bin sehr erregt, füge ich im Geiste hinzu.
»Bonsoir!« Audric geht nicht, er eilt durch meinen Korridor und ich höre die Tür hinter ihm klappen.
Ein seltsamer Junge, denke ich und das ist er. Ein großer Junge. Ein attraktives Gesicht mit schönen Augen. Bei schönen Augen muss ich wieder an Monsieur Frechat denken. Hat er schöne Augen? Ist dieses dunkle verschwommene Braun schön? Auf jeden Fall ist es mit kleinen schwarzen Punkten gesprenkelt. Eigentlich sind Monsieur Frechats Augen wie ein frisch umgegrabener Gartenboden. Erde, ein wenig Lehm, feuchte Kühle. Sie haben etwas Beruhigendes, wie ein Blumenbeet im Sommer nach einem Schauer.
***
Später in der Badewanne widerstehe ich dem beinahe übermächtigen Drang, mich zu berühren, meine eigenen Finger auf meiner Haut zu spüren. Ich widerstehe, wenn auch schwerlich, aber ich will all mein Verlangen, all mein Sehnen für Monsieur Frechat aufheben. Ich will ausgehungert sein und mir nehmen, was ich möchte.
***
Gegen zehn ruft Luc noch einmal an, aber ich kann nicht. Ich habe mich nackt ins Bett gelegt, obwohl es nicht sehr warm ist. Ich spüre einen kühlen Wind durch die zugigen Holzfenster. Er streicht über meine Haut und stellt wie von Geisterhand feine Härchen auf, fast wie eine Hand, die mich sanft streichelt. Ich liege nur so da, wälze mich von einer Betthälfte auf die andere, rolle mich zusammen, strecke mich wieder aus. Aus einzelnen Tropfen der Lust wird fast ein Bach. Der Gedanke an Donnerstag sprudelt zwischen meinen Beinen wie eine muntere kleine Quelle.
Mittwoch
Der Mittwoch empfängt mich überraschend warm, sehr früh und eigentlich auch nur durch das hartnäckige Vibrieren meines Telefons auf dem Nachtschrank.
»Luc, es geht dir sicher besser?«, gähne ich in den Hörer und höre nur ein Grunzen, dann erst Lucs heisere Stimme: »Martha, du bist wirklich grausam! Ich war heute Nacht im Krankenhaus. In der Notaufnahme. Es geht mir sehr schlecht. Ich brauche Medikamente. Kannst du für mich zur Apotheke gehen?«
»Luc, ich kann nicht, ich muss arbeiten.« Mit der freien Hand reibe ich mir die Augen. »Frag Elvira, sie kommt heute.« Elvira wird dafür bezahlt, ich nicht.
»Elvira ist auch krank, sie kommt eben nicht.«
Elvira ist klug, denke ich und sage nichts.
»Ich war im Krankenhaus. Die Ärzte sind sehr besorgt«, ergänzt Luc schließlich.
»Wäre es ernst, hätten sie dich dabehalten, Luc.«
»Vielleicht wollten sie mich auch nicht mehr aufnehmen, vielleicht macht es keinen Sinn mehr, vielleicht ist die vertraute Umgebung das Beste für einen Sterbenden.«
»Du übertreibst maßlos.« Ich seufze. »Also schön, ich komme in der Mittagspause vorbei, aber nur ganz kurz.«
Luc atmet laut in den Hörer, dann sagt er sehr leise meinen Namen und legt auf.
Ein kurzer Besuch heute Mittag bei ihm ist sicher besser, als ein endloser heute Abend nach meinen Klavierschülern. Den ganzen weiteren Vormittag über in der Académie ärgere ich mich über mich selbst. Immer wieder lasse ich mich von Luc schieben und ziehen. Das ständige Tauziehen kostet Kraft, Kraft, die ich irgendwann vielleicht nicht mehr habe und dann einfach zu ihm zurückgehe, ist er doch das Einzige an Familie, was ich noch habe.
***
In einer kurzen Zigarettenpause auf dem Hof sehe ich zu meiner Überraschung Audric, der im Torbogen gegen die Wand lehnt, ein Knie angezogen, die Sohle seines Turnschuhs gegen die Wand gepresst mit gesenktem Kopf. Er sieht erst auf, als Colette und Blanche mit trippelnden Schritten und prallen Trainingstaschen über den Schultern in die Einfahrt biegen. Blanche bleibt stehen und haucht Audric Küsse auf die Wangen, während Colette die Nase reckt und weitergeht. Ich sehe, wie sein Blick Colette folgt. So ist das also, denke ich. Der arme Audric.
Ich frage mich, ob Blanche und Colette wirklich befreundet sind oder ob sie nur zusammen kommen, tanzen, trainieren und gehen. Vielleicht verbindet sie das Warten auf einen Platz in einer Tanzkompanie. Das ewig gleiche Bangen und Hoffen, die ewige Enttäuschung. Vielleicht wird die Erkenntnis, dass sie außer hier bei Madame Blanchard niemals den Schwan tanzen werden, sie eines Tages entzweien. Wer weiß.
Ich drücke die halbgerauchte Zigarette aus, trinke den letzten Schluck Kaffee, bevor ich den Pappbecher in den überquellenden Mülleimer versenke und spiele dann noch zwei Stunden Chopin, bis ich zur U-Bahn haste und die paar Stationen zu Luc fahre.
***
Als ich die Wohnungstür aufschließe, weht mir abgestandene Luft entgegen.
»Martha, bis du das?«
Ohne ein Wort eile ich durch den Flur ins Wohnzimmer, vorbei an Luc, der auf der Couch liegt und eine Wolldecke mit beiden Händen umklammernd bis zur Nasenspitze gezogen hat. Hastig reiße ich beide Fensterflügel auf.
»Willst du mich endgültig umbringen, ja?«
»Frische Luft wird dir guttun, Luc.« Ich lehne mich gegen das breite Fensterbrett und atme tief in den kühlen Frühling. Verkehrslärm schwappt in Wellen zu uns hinauf.
Lucs Wangen sind ungesund gerötet und er ist tatsächlich ein wenig blass zwischen Nase und Mund.
»Es sind schon viele Leute erfroren, aber an schlechter Luft ist noch keiner gestorben«, murmelt er in seine Decke. »Die Rezepte liegen in der Küche auf dem Tisch.«
***
In der Apotheke hole ich das wilde Sammelsurium aus Tabletten, Tropfen, Pastillen und Salben ab, die Luc dem Arzt aus dem Kreuz geleiert hat, kaufe im Supermarkt noch eine fertige Hühnersuppe im Glas, die ich später in der Küche erwärme. Es ist seltsam, hier wieder in