Müde drücke ich auf das Display. »Was hat der Tischler gesagt?«
»Was für ein Tischler?«, fragt Luc verdutzt.
»Egal. Hast du das Notenpapier gefunden?« Den Tischler kann ich selbst anrufen, denke ich. Morgen vielleicht.
»Was? Welches Notenpapier?«
»Nicht wichtig, Luc.«
»Martha, du musst morgen früh meinen Zahnarzttermin absagen. Bertrand hat angerufen. Er will sich mit mir treffen.«
Mit einem Schlag bin ich hellwach. »Wirklich?«
»Ja, stell dir vor, er will meine Oper ›Les deux Enfants‹ konzertant aufführen. Ist das nicht großartig?«
»Allerdings!« Ich richte mich auf und kreise mit den Schultern. »Luc, das ist ein Riesenerfolg!«
»Martha, du könntest mit mir feiern.« Seine Stimme hört sich tief und ein wenig heiser an. Er klingt, als hätte er schon allein mit mindestens einem Glas Merlot begonnen. »Wir könnten es uns vor dem Kamin gemütlich machen. Wir könnten uns auf den Teppich davor legen, uns gegenseitig ausziehen und die prasselnde Hitze des Feuers auf unseren nackten Körper spüren. Dein dunkles Haar. Ich weiß es noch. Es leuchtet mahagonifarben im Schein der Flammen. Und ich mag die schwarzen Schatten, die über deine weiße Haut tanzen, so, wie deine Finger über die Tasten des Klavier perlen.« Er hält kurz inne. »Du würdest meinen heißen Atem auf deiner Haut spüren, wenn ich mich vorbeuge und mit meinen Lippen deinen Hals hinunterwandere. Deine schweren, vollen Brüste würde ich in meinen Händen halten, sie darin wiegen und nur für sie ein Schlaflied komponieren ...«
Meine Gedanken ertränken seine Stimme. Ich weiß sehr gut, wie es war, wenn wir uns ganz langsam vor dem offenen Feuer geliebt haben. Ich erinnere mich an Lucs Lächeln, mit dem er mich jedes Mal bedachte, bevor er den Kopf zwischen meinen Schenkeln vergrub und in mich hineintauchte. Ein kleiner Schauer läuft mir über den Rücken und ich gleite an der Lehne des Stuhls ein Stück hinunter, strecke die Beine aus und lege den Kopf in den Nacken. Jetzt in diesem Augenblick vermisse ich Luc so sehr, dass das Begehren, das in meinem Schoß erwacht, mich schmerzt und vor allem aber an Solange erinnert. Hat sie auch dieses Prickeln in ihrem Venushügel gefühlt, als sie auf Lucs Schoß saß?
Erst haben mich die beiden gar nicht bemerkt, so versunken waren sie in ihr Tun und ineinander gewesen. Solange, die Cellistin. Ihr gerader Rücken, ihre schmale Taille und ein perfekter birnenförmiger Po. Im Grunde sah sie von hinten selbst aus wie ein Cello. Sonnenlicht malte mit den Vorhängen kleine Punkte und Kreise auf ihre gebräunte Haut. Ein schöner Anblick. Verstörend schön. Ein Anblick, dem ich mich nicht entziehen konnte, ein Moment, den ich trotz aller Entrüstung nicht wagte zu unterbrechen. Ich kann sie noch sehen, die Schweißtropfen auf ihrer Haut, einer, der über ihr Schulterblatt rollte, dann auf die Hüfte tropfte. Ich weiß noch, wie sie sich ihr Haar mit einer achtlosen Bewegung aus dem Nacken schob. Lucs Stöhnen hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Mit mir wurde er selten laut, mit Solange dagegen schien es leichter für ihn zu sein, sich fallenzulassen. Ein gurgelndes Stöhnen aus seiner Kehle und seine Hände auf ihren Hüften. Hier dirigierte er sein eigenes Werk, seinen eigenen Rhythmus und seine Egozentrik. Solange, ganz die erfahrene Orchestermusikerin, gab sich dem Maestro hin. Sie mag obenauf gesessen haben, aber den Taktstock hatte er tief in sie versenkt. Hier mit ihr hatte er nichts mehr von dem verwöhnten französischen Landadligen, den er mir gern gab. Bisweilen kam es mir so vor, als müsste ich erahnen, was ihm im Bett gefiele. Mit Luc zu schlafen, war immer mehr zu einer Anstrengung geworden. Selten, nur ganz selten einmal, nahm er mit mir das Heft in die Hand. Im Grunde musste ich alles tun, alles leisten. Seinen Höhepunkt und meinen eigenen. Vielleicht hatte er immer so jemanden wie Solange gewollt, jemand, der Wachs in seinen Händen war. Vielleicht hat er mir alles zugeschoben, weil ich mich nicht nur willig hingab, sondern mir auch nahm, was ich wollte. Vielleicht hat ihn das abgestoßen, vielleicht wollte er im Bett lieber eine Frau wie Solange, eine Frau, die gern die zweite Geige spielte.
Er war mit seinen Händen an ihren Hüften hinaufgeglitten, bedeckte ihre Brüste und rief ihren Namen. Keuchend holte sie Luft, stieß Worte hervor, die ich nicht verstand oder verstehen wollte.
Unfähig, mich zu bewegen oder auch etwas zu sagen, war ich damals in der Tür stehengeblieben, verwurzelt mit dem Holz der Schwelle. Ich hätte nicht sagen können, wo ich aufhörte und das Holz begann.
Ihr Höhepunkt kam zuerst, erstaunlicherweise. Ich konnte es gut sehen. Ihr Innehalten, das feine Zittern ihrer Pobacken, dann legte sie den Kopf in den Nacken und zwei spitze kleine Schreie entfuhren ihr. Lächerlich, dachte ich damals, lächerlich.
Lucs Höhepunkt begann, wie er immer begann, mit wackelnden Zehen und einem dumpfen Grollen im Hals, das mich in diesem Augenblick körperlich schmerzte.
Nur wenig später hob Solange elegant ein Bein, ließ Lucs zuckenden Schwanz aus sich herausgleiten und gab damit den Blick frei auf mich im Türrahmen.
Dann kam das, was immer kommt. Schreien, Weinen, Fluchen, wüste Beschimpfungen und schließlich meine Trennung von Luc.
Wie kann ich ihm diese Zweisamkeit verzeihen, diese Verschlungenheit? Wie kann ich ihm seine geschlossenen Augen verzeihen und sein Stöhnen, sein heiseres Flüstern: »Solange ... Solange ...«
Was Luc und ich hatten, war immer mehr als das, hatte ich zumindest geglaubt. Erschreckend naiv.
»... immer und immer wieder, bis du dich unter mir aufbäumst und ...«
»Gute Nacht, Luc«, sage ich leise und schalte das Telefon aus.
Samstag
Der Samstagmorgen darauf bringt mehr Regen und vor allem mehr Ballett an der Académie. Er bringt auch ein bisschen Berlioz und Ravel zum Aufwärmen, vor allem aber Tschaikowsky.
Den meisten Lehrern ist es unter der Woche ziemlich egal, was ich klimpere, so lange es einigermaßen zu ihren Stunden passt, nur samstags ist gar nichts egal, weil für eine der beiden großen Aufführungen im Jahr geprobt wird. Entweder für den »Nussknacker« kurz vor Weihnachten oder so wie jetzt »Schwanensee« vor der Sommerpause.
Seit einer Stunde schon hüpfen vier kleine Schwäne unter der Anleitung von Madame Blanchard, der Leiterin des Ballettinstituts höchstpersönlich, durch den Saal. Über das Alter von Agnès Blanchard gehen die Meinungen auseinander. Manche sprechen von über Fünfzig auf jeden Fall, andere wähnen sie sogar in ihren frühen Sechzigern. Alles, was wir wissen, ist, dass sie in den Achtzigern für das Pariser Opernballett getanzt hat und ziemlich berühmt war.
Ich persönlich glaube ja, sie hat gar kein Alter. Agnès ist neben meinem Flügel stehengeblieben, legt eine Hand auf das Holz und dirigiert mit der anderen die kleinen Schwäne.
Ab und an wirft sie mir einen Blick zu, in dem die flüchtige Andeutung eines Lächelns liegt. Agnès mag mich. Warum, weiß ich nicht, aber ich hatte schon das Gefühl, dass ich ihr sympathisch war, als ich damals mit meinen Noten unter dem Arm in ihr kleines Büro marschiert bin, um mich als Korrepetitorin zu bewerben. Auf dem Schreibtisch quollen drei Aschenbecher über und in dem fensterlosen Kabuff hing Qualm dick wie Londoner Nebel unter der Decke. Nach dem kurzen Gespräch mit ihr hatte ich das Gefühl, meine Kleidung verbrennen zu müssen, so sehr hatte sich der kalte Zigarettenrauch binnen der zehn Minuten in den Stoff gefressen. Sie hat damals das Blatt mit meinem Lebenslauf in der Hand gedreht. Abwechselnd auf die verschiedenen Stationen und zu mir geblickt. Er wäre kein spannender Job, hatte sie gesagt und mich prüfend angesehen. Ich hatte nur erwidert, dass ich dies auch nicht erwarten würde.
Wann ich das erste Mal am Klavier gesessen hätte, wollte sie wissen und sofort fiel mir mein Großvater ein. Er war Opernsänger. Ein melodramatischer, aber unglaublich witziger Mann, der mich gern zu Proben mitnahm oder mich auf seinen Schoß setzte, wenn er selbst am Klavier sang. »Mit drei Jahren«, habe ich ihr also wahrheitsgemäß geantwortet und Agnès hat genickt und gesagt, dass sie mit drei angefangen hätte, zu tanzen und nie wieder aufgehört hat. Dann hatte ich den Job.