»Was? Ach ja, ich denke daran. Um elf?«
»Halb elf«, korrigiere ich sanft und bereue es jetzt schon, ihm meine Schlüssel gegeben zu haben. Aber wen hätte ich bitten sollen? Einen Haumeister gibt es schon lange nicht mehr und die meisten meiner Nachbarn arbeiten auch.
»Ja, ja, dann eben halb elf. Viel wichtiger ist aber: Ich kann ohne dich nicht leben.« Lucs Stimme wird leiser: »Komm zu mir zurück.«
Ich kann Luc vor mir sehen. Er wird im Türrahmen zur Küche lehnen. Um diese Zeit hat er gerade geduscht und sich jetzt ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Sein dunkelblondes Haar ist noch feucht und zerzaust. Er wird es mit einer Hand aus seiner Stirn schieben. Unzählige Male hat er in den fünf Jahren unserer Ehe so dagestanden und mit irgendjemandem telefoniert. Er hat gelächelt, wenn ich mich an ihm vorbei in die Küche drängeln wollte. Er hat gelächelt, mich an der Hüfte gepackt und zu sich herangezogen. Erst nach einem geräuschlosen Kuss durfte ich weitergehen.
Ich schließe die Augen. »Luc, ich kann nicht. Es tut noch immer weh.« Vor allem in Momenten wie diesem. Ich muss an das lange Haar der Frau denken. Ein helles Braun, leicht gewellt. Fliegende Strähnen tanzten um ihren Kopf, während sie die Hüften auf und ab bewegte. In unserem Bett. In Lucs und meinem Bett. Auf Luc.
»Ich werde warten«, sagt Luc und schluckt. »Dass du dich noch immer um mich kümmerst und mich mit all meinen Unzulänglichkeiten nicht allein lässt, ist mir Liebesbeweis genug. Ich werde warten, bis du mir verzeihst, egal, wie lange es dauert.«
Dann legt er auf und ich schließe die Augen. Es gibt Tage, an denen bin ich fast bereit dazu. Zum Beispiel, wenn ich Lucs Sachen in unserer alten Wohnung ordne, neue Termine in seinen Kalender eintrage, seine Sachen für die Reinigung zusammensuche und Elvira, Lucs Haushaltshilfe, einen Einkaufzettel schreibe. Dann fühlt sich alles an wie früher.
Das sind Tage, an denen ich vor dem Fenster im Wohnzimmer stehenbleibe und auf das Gluckern der Heizkörper lausche und mir wünschte, Luc würde zur Tür hereinkommen. Müde, aber euphorisch von einer Orchesterprobe, die er sich angehört hat. Er würde mich an dieser kleinen Stelle hinter dem Ohr küssen, die mich wahnsinnig macht. Da, wo meine Haut gleichzeitig schmerzt und kitzelt, wenn seine Bartstoppeln darüberkratzen. Aber immer bleibt die Wohnung leer und still. Und das Gefühl verfliegt, wenn ich den großen Schlüssel im Schloss außen drehe.
Erneut vibriert das Telefon in meiner Hand.
»Luc?«, frage ich seufzend und halte es wieder ans Ohr.
»Ich habe kein Notenpapier mehr.«
»Doch, hast du. Ich habe es in die oberste Schublade des alten Sekretärs gelegt. Da liegt es doch immer.«
»Martha, das ist Quatsch. In die oberste Schublade kommen nur alte Rechnungen. Schon immer.«
»Wie du meinst. Jedenfalls findest du dort das Papier. Ich muss aufhören, ich muss wieder in die Probe.«
»Jetzt lass doch mal deine Hupfdohlen, Martha. Komm zu mir. Ich koche uns etwas und wir trinken ein Glas Wein dazu, wie klingt das?«
»Au revoir, Luc.«
»Nein, warte! Du musst dich nicht an der Ballettschule quälen, nicht jeden Schüler nehmen. Lass mich für dich sorgen, wie es ich es damals versprochen habe.«
»Ich habe genug Geld bei der Scheidung bekommen.«
»Ja, und davon hast du diese lächerlich alte Hinterhauswohnung gekauft. Ein Loch ist das. Zugig und kalt. Komm zurück in unser Zuhause, komm zurück zu mir. Da, wo du hingehörst.«
»Au revoir, Luc.«
»Martha ...«
Ich lege auf und warte noch einen Moment, aber leider fehlt mir die in vielen Jahren Ballettunterricht gestählte, lautlose Eleganz von Blanche. Natürlich trifft mich also erneut einer dieser pieksigen Blicke von Catherine, die sich eben wieder zur Tür umdreht, als ich quer durch den Raum eile. Mit gesenktem Kopf verschwinde ich hinter dem Flügel und spiele eine weitere halbe Stunde Chopin. Vielleicht hat Luc ja recht, vielleicht ist meine Unfähigkeit, ihn selbst vier Jahre nach der Scheidung seinem Chaos zu überlassen, tatsächlich ein Liebesbeweis. Auf der anderen Seite glaube ich aber, dass ich es einfach der Welt schuldig bin, einen so talentierten Komponisten wie Luc nicht sich selbst zu überlassen. Niemand außer mir würde doch seine Notenblätter ordnen, seine Kompositionen überblicken, ihm sagen, wo er sich mit einem Thema versteigt und wo er einen Nerv genau trifft. Wer, wenn nicht ich?
***
Julien, mein »Freitag-fünf-Uhr-Nachmittag-Schüler«, sitzt bereits auf der Treppe im vierten Stock neben meiner Wohnungstür. Den blonden Schopf hat er so tief über ein Buch gebeugt, dass die Haarspitzen die Seiten berühren. Er hält einen Stift so fest in der Hand, dass die Haut seines knubbeligen Zeigefingers ganz fahl ist. Emsig kritzelt er etwas auf einen kleinen Zettel.
»Guten Tag, Julien, wartest du schon lange?«
Er sieht auf und verzieht das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Nein, Madame Pelletier.«
»Gut. Hast du geübt?«
Sein Grinsen wird breiter, aber die Mundwinkel zittern verdächtig unsicher und er senkt den Kopf wieder. Er hat ein hübsches Gesicht, denke ich. Noch ist es kindlich, in ein paar Jahren wird sein Lächeln Scharen von Mädchen bezaubern.
»Also nein«, konstatiere ich und er nickt fast unmerklich. Ich seufze. So ist es meist. »Komm.«
Die alte Holztür klemmt immer ein bisschen und an feuchten Tagen, so wie heute, muss ich mich dagegenwerfen.
Julien hebt den Rucksack mit seinen Schulsachen vom Boden auf und geht geradeaus durch meinen kleinen Flur ins Wohnzimmer. Seine Schritte werden langsamer, je näher er dem Flügel kommt. Der arme Junge, denke ich. Klavierunterricht ist für ihn und für mich Lebenszeitverschwendung. Julien verfügt weder über Talent noch Hingabe, sondern nur über ehrgeizige Eltern.
Rasch werfe ich meinen Mantel über den Garderobenhaken und schlüpfe aus den Pumps.
»Kakao?«, rufe ich ihm aus der Küche zu.
Luc muss es tatsächlich geschafft haben, den Tischler zu beaufsichtigen, denn die Rechnung liegt auf dem alten, weißen Buffetschrank. Vielleicht ist es gut, dass er einen Schlüssel hat. Er wird es nicht wagen, hier einfach so hereinzuplatzen, hoffe ich zumindest. Bei Gelegenheit nehme ich ihm den Schlüssel trotzdem wieder ab. Ich muss daran denken, aber nicht jetzt.
»Ja, danke, Madame Pelletier.«
Als ich Julien wenig später die Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit hinhalte, in der Marshmallows wie dicke Enten auf einem See ihre Kreise ziehen, greift er dankbar zu und legt das Buch auf seinen Rucksack.
»Was lernst du?«
Juliens Blick verfinstert sich. »Französisch. Wir schreiben morgen einen Test.« Mit dicken Backen pustet er auf das braune Gebräu.
Ich reibe nachdenklich meine schmerzenden Handgelenke. »Kann ich dir helfen?«
»Wirklich?« Er sieht mich fragend an und in seinen elfjährigen Augen liegt noch eine kindliche Ernsthaftigkeit, die mich wehmütig stimmt.
»Komm, wir setzen uns an den Tisch.«
»Und der Klavierunterricht?« Unsicher huscht sein Blick über den Flügel und ich muss lächeln.
»Nächstes Mal. Wenn du geübt hast.«
Also eigentlich nie, füge ich in Gedanken hinzu.
Nach Julien geben sich noch die blasse, dünne Valerie und der behäbige Antoine die Klinke in die Hand. Keiner der beiden ist mit Spaß bei der Sache. Sie sitzen und spielen herunter, was sie nicht wirklich geübt haben. Wenige Minuten vor dem Ende der Stunde schauen sie immer wieder verstohlen auf die kleine Uhr, die auf dem Notenschränkchen steht, bis ich sie schließlich mit einem