»Sie behaupten also, die Frau von Lord Charles de Abbeyville zu sein?«
Das fängt nicht gut an. Ich fixiere den Mann und antworte:
»Sir, ich behaupte das nicht, ich bin die Frau von Charles de Abbeyville. Wie ich gestern schon erläutert habe, bin ich im Auftrag meiner Regierung hier. Und ich muss so schnell wie möglich die Stadt verlassen, um Bericht zu erstatten. Dabei könnte ich durchaus auch eine Nachricht an eine Ihrer Armeen überbringen.«
»Soso ... Die Regierung Ihrer britischen Majestät schickt ausgerechnet eine Frau. Das ist nicht so recht glaubhaft. Warum sollte Ihr Geheimdienst eine Frau beauftragen? Erklären Sie mir das mal.«
Ich setze mein gewinnendstes Lächeln auf.
»Sir, Sie beantworten Ihre Frage doch schon selbst. Weil niemand in mir eine Beobachterin oder eine Spionin vermuten würde. Nicht einmal die Deutschen.«
Die Franzosen sehen sich an. Es klingt einleuchtend. Doch der grauhaarige General gibt nicht auf.
»Können Sie sich irgendwie legitimieren? Haben Sie etwas dabei, das beweist, dass Sie wirklich die Lady de Abbeyville sind?«
Ich schüttle den Kopf.
»Nein, natürlich nicht. Ich würde ja Kopf und Kragen dabei riskieren, wenn ich ein Legitimationsschreiben meiner Regierung dabeihätte. Oder finden Sie nicht? Ich habe den klaren Auftrag Ihrer Majestät Queen Victoria herauszufinden, wie es um Frankreich bestellt ist. Denn ein Deutschland, das den Kontinent beherrscht, ist nicht in unserem Interesse.«
Wohin ich jetzt auch schaue ... nur nachdenkliche Gesichter.
»Wir müssen uns beraten. Mylady, wir möchten Sie bitten, noch einmal draußen zu warten.«
Das klingt jetzt schon nicht mehr ganz so schlecht. Ich habe die Herren neugierig gemacht. Und James hat gestern erfahren, dass es kaum Freiwillige für diese Ballonfahrten gibt. Wenn sie uns vertrauen ... wenn sie uns nur vertrauen ... Dann schweben wir vielleicht schon bald über Freund und Feind hinweg und können unsere Reise fortsetzen.
Die Warterei kommt mir endlos vor. Schließlich werde ich wieder hereingerufen. Jetzt bietet man mir auch einen Platz an dem Tisch an. Der Wind hat sich offenbar gedreht.
»Lady de Abbeyville. Wir glauben Ihnen, was Sie uns sagen. Wir planen, heute Nachmittag wieder einen Ballon aufsteigen zu lassen. Sie und Ihr Begleiter können mitfahren. Doch Capitaine Laurent wird Sie begleiten.«
Ein junger, hochgewachsener Mann, der in einer Ecke gewartet hat, tritt vor, schlägt die Hacken zusammen und verbeugt sich vor mir. Was soll ich mit einem Aufpasser? Ich muss mit James alleine fliegen, denn ich brauche meine Handlungsfreiheit. Sie trauen mir eben immer noch nicht gänzlich. Ich spüre es.
»Zu viel der Ehre, Monsieurs ... Aber dann muss ich Ihr Angebot ausschlagen. Drei Leute an Bord ist mir zu riskant. Wir werden nicht genug Höhe gewinnen und so im Schussbereich der preußischen Flinten bleiben. Nein, danke, meine Herren. Ihr Angebot, mir einen Beschützer beizustellen, ehrt sie, doch damit bringen Sie unser Leben und die Mission in Gefahr. Und außerdem. Bedenken Sie bitte. Wenn wir von einem französischen Capitaine begleitet werden, dann ist es doch offensichtlich, dass ich für Sie arbeite. Ich habe keine Lust, vor einem deutschen Erschießungskommando zu landen.«
Ich mache Anstalten, mich zu erheben. Doch dann bremst man mich ein.
»Warten Sie, Madame. Bitte warten Sie.«
Ein hochgewachsener Mann erhebt sich. Kantiges Gesicht. Hakennase. Ist er der Oberbefehlshaber hier? Der seine Untergebenen das Vorfeld erkunden ließ? Es scheint so.
»Ja, Madame. Sie haben möglicherweise recht. Capitaine Laurent wird Sie besser nicht begleiten. Aus den Gründen, die Sie eben so treffend dargelegt haben. Ich würde Sie bitten, sich vorzubereiten, denn Sie müssen so bald wie möglich aufbrechen. Die Lage hier ist ernst und wir benötigen so bald wie möglich Entsatz. Noch haben die Deutschen ihre Stellungen nicht vollständig ausgebaut, doch sie werden von Tag zu Tag stärker. Daher drängt die Zeit. Der Wind steht zudem günstig. Sie müssen die Armee de l’Est unter General Bourbaki erreichen. Sie befindet sich in einer guten Position, um die Deutschen im Rücken anzugreifen. Hier sind die Befehle, die ich für den General ausgearbeitet habe.«
Ich starre ihn an.
»Monsieur le General ... Das ist nicht Ihr Ernst. Ich kann keine schriftlichen Befehle mitnehmen. Dann können Sie auch gleich eine weitere Order für die Deutschen mitnehmen: Stellt diese Frau an die Wand, denn sie arbeitet für die Franzosen. Die ganze Umgebung von Paris wimmelt von deutschen Soldaten. Mit so einem Befehl in der Tasche kann ich niemanden glauben machen, dass ich nur eine harmlose englische Lady bin. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist die, dass sie mir weiter vertrauen. Öffnen Sie den Befehl und lassen Sie ihn mich auswendig lernen. Ich verspreche Ihnen, ich werde die Botschaft überbringen.«
Mit dieser Antwort haben sie nicht gerechnet. Man bestürmt mich, doch den Befehl an mich zu nehmen, doch ich bleibe hart. Mit diesem Schriftstück in der Tasche ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert, sollte ich tatsächlich von den Deutschen aufgegriffen werden. Ich nehme den versiegelten Brief und drücke ihn dem Stadtkommandanten in die Hand.
»Monsieur le General ... Ihre Entscheidung. Lassen Sie mich den Befehl lesen. Dann bin ich Ihnen gerne zu Diensten. Ansonsten kann ich Ihnen nicht helfen und ich muss abwarten, wie es mit der Belagerung weitergeht. Dann wird allerdings auch Seine britische Majestät keine Informationen aus erster Hand erhalten können.«
Wieder werde ich hinausgeschickt. Kein Wunder, dass es so schlecht um Frankreich bestellt ist. Wenn alle Entscheidungen so lange ausdiskutiert werden müssen. Als ich hereingerufen werde, wird mir der geöffnete Brief entgegengehalten. Ich habe 10 Minuten Zeit, mir das Ganze einzuprägen. Ich verzichte darauf, mich in den Einzelheiten zu verlieren. Die Botschaft für die Armee de l’Est lautet schlicht und ergreifend: Setzt euch so bald wie möglich in Bewegung und tretet den Deutschen in den Arsch.
***
Wir sind abflugbereit. Eine seltsame Euphorie hat sich in mir breitgemacht. Der Ballon ist jetzt fertig gefüllt und nur noch vier mächtige Halteleinen halten ihn am Boden fest. James und ich wurden instruiert, mit dem Ballast vorsichtig umzugehen. Wir haben etwa 300 kg an Bord und wir dürfen maximal die Hälfte davon gleich für den ersten Anstieg verbrauchen. Denn um Abstand von Paris zu gewinnen, werden wir immer wieder Ballast abwerfen müssen, um die Höhe zu halten. James und ich nehmen uns kurz in den Arm, um uns gegenseitig zu ermutigen. Dann winken wir der jubelnden Menge zu. Schließlich wird das Startzeichen gegeben. Wuchtige Axtschläge durchtrennen die Haltetaue und wir schweben nach oben. Schnell gleiten wir über die Firste der Dächer hinweg und ein frischer Wind treibt uns über die Stadt nach Südosten. Doch wir haben jetzt mächtig zu tun. Wir müssen an Höhe gewinnen. Denn wenn wir zu tief über die feindlichen Linien gleiten, dann ergeht es uns schlecht. Und so wuchten wir einen Sack nach dem anderen über die Kante des Korbes. Mühsam steigen wir höher. Ich blicke nach oben. Irgendetwas stimmt hier nicht. Wir sind nicht so hoch, wie wir sein sollten. Ist in dieser verdammten Ballonhülle vielleicht ein Leck? Durchaus möglich. Ich blicke James an, der mich. Und dann beginnen wir von Neuem Sandsäcke über Bord zu befördern. Pfeif auf den Hinweis, sparsam mit dem Ballast umzugehen. Wir sind zu niedrig. Wir brauchen mehr Höhe. Und zwar schnell. Denn schon gleiten wir über die Bastionen der Stadtmauer hinweg. Nicht gut. Die Euphorie des Fliegens und des wie ein Vogel Dahinschwebens ist wie weggeblasen. Langsam steigt Panik in mir auf. Wir gewinnen nur mühsam an Höhe. Viel zu langsam. Und da fällt plötzlich auch schon der erste Schuss. Ich ducke mich weg. Holzsplitter fliegen um mich herum. Wir werden getroffen. Scheinbar unbeirrt wirft James weiter Ballast ab. Kugeln fliegen um uns herum und ich brülle ihn an:
»Verdammt noch mal, geh in Deckung, oder willst du dich für die verdammten Franzmänner abknallen lassen.«
Das Spiel ist aus. Kugeln schlagen nicht nur in den hölzernen Korb ein, nein,