Marie hatte nicht einmal versucht, es sich auszureden. Als sie ihren Wagen in der Garage parkte, wusste sie, wo sie an diesem Abend enden würde. Sie musste lediglich einen Anruf tätigen, um ihm Bescheid zu geben, dass sie wieder in der Stadt war und ihn sehen wollte. Er hatte sie noch nie zurückgewiesen und nach drei Wochen der Trennung bezweifelte sie, dass er es heute tun würde.
Und natürlich tat er es nicht.
Es war 23.05 Uhr, als sie die Hintertür des Wohngebäudes erreichte. Es war eine grenzwertige Ecke der Stadt, aber nicht so schlimm, dass sie Angst davor hatte, alleine im Dunkeln unterwegs zu sein. Außerdem war der Campus nur zwölf Kilometer entfernt und sie wusste, dass die Kriminalitätsrate in Campusnähe unglaublich gering ausfiel. Sie war so aufgeregt, was die nächsten Stunden bringen würden, dass jegliches Gefühl von Gefahr einfach an ihr abprallte.
Als sie die Hintertür des Gebäudes erreichte, war Marie nicht überrascht, diese verschlossen vorzufinden. Sie klingelte und wurde sofort mit dem sich öffnenden Türschloss belohnt. Der Lautsprecher blieb still, lediglich das Schloss knackte, als es sich aufdrehte. Sie lächelte. Er war vermutlich in seiner ernsten, vielleicht sogar dominanten, Stimmung.
Süß, dachte sie. Aber wir wissen, wer am Ende immer die Oberhand hat.
Beim Gedanken daran wurde sie noch aufgeregter. Sie trat ein, ließ aber den Aufzug links liegen, da sie seine Wohnung im zweiten Stock so schnell wie möglich erreichen wollte. Sie nahm immer zwei Stufen gleichzeitig und ihre Herzfrequenz schoss in die Höhe – vor Anstrengung und Vorfreude. Es war wie ein köstliches Vorspiel: die Erwartung, die Fahrt von New York nach Baltimore, die Ankunft in seiner Wohnung.
Es war eine lange Fahrt gewesen. Sie war gestresst und angespannt. Oh, sie würde ihn müde machen und ihn so richtig zu Grunde reiten.
Als sie seine Wohnung erreichte, fand sie die Tür unverschlossenen. Sie öffnete sie nur einen Spalt und sah, dass es dunkel war. Aus dem Wohnraum schien ein schwaches Licht, vielleicht von einer Kerze.
„Was tust du?“, fragte sie mit sinnlicher Stimme.
„Ich warte auf dich“, antwortete er.
„Gut. Aber … du kannst mich nur haben, wenn du mir genau sagst, was du möchtest.“
Sie hörte, wie er in der Dunkelheit leise kicherte. Als ihre Augen sich an das fehlende Licht gewöhnten, konnte sie seine Silhouette im Wohnzimmer sehen. Er lag auf der Couch. Sie lächelte und ging zu ihm hinüber.
Die Wohnung roch staubig und unbenutzt – hauptsächlich, weil sie genau das war. Sie wusste, dass er ein besseres Zuhause hatte, aber sie wusste auch, dass er sie dort nicht haben wollte. Er bevorzugte es, sein Privatleben außenvor zu lassen. Soviel sie wusste, verbrachte er nur sehr wenig Zeit zuhause. Sie selbst hatte nur die Fassade des Hauses gesehen. Für gewöhnlich traf sie ihn hier, manchmal auf dem Rücksitz seines Wagens oder in einem Hotel. Obwohl sie seinen Wunsch nach Privatsphäre verstand, wünschte sie sich, ihn einmal in einem riesigen Bett verschlingen zu können. Vielleicht sogar mit stimmungsvoller Musik und Kerzenschein.
Aber auch das Versteckspiel war sexy. Es war ein Teil der Verlockung und der Grund, warum sie gerade den Drang bekämpfen musste, sich ohne weitere Umschweife auf ihn zu stürzen.
Aber bei ihren Rendezvous war es immer um den Aufbau gegangen. Um die Neckereien, das raue Vorspiel, manchmal sogar um die spielerischen, abfälligen Bemerkungen.
„Komm her, Marie“, sagte er.
Sie ging auf die Couch zu, wo er vollständig bekleidet lag. Das war okay. Es würde das Vorspiel nur ausdehnen.
„Das ist süß“, sagte sie, als sie sich vor ihm auf den Boden kniete. Sie küsste ihn zärtlich und schnalzte ihre Zunge gegen seine Lippen. Sie wusste, was ihm gefiel.
„Was ist süß?“, fragte sie.
„Du. Dass du glaubst, die Kontrolle zu haben.“
„Oh, aber das habe ich“, sagte er und setzte sich auf.
„Ich werde dich für eine Weile in dem Glauben lassen“, antwortete sie und knabberte an dem weichen Fleisch seines Halses. Er bewegte sich und sie fühlte seine Hände auf ihr – eine auf dem Rücken, die andere an ihrem Hinterkopf. „Aber wir beide kennen die Wa …“
Ohne Vorwarnung packte er ihren Kopf und stieß sie nach vorne. Mit gewaltiger Geschwindigkeit knallte ihre Stirn gegen sein Knie.
„Was zum …“
Doch bevor sie ihre Frage herausbrachte, war er auf ihr und drückte sein Gewicht gegen ihren Rücken. Ihr Kopf drehte sich vom Aufprall und für einen Moment hatte Marie berechtigterweise keine Ahnung, wo sie war.
Als sie ihre Hände herauszog, um sich zu wehren, waren seine bereits in ihrem langen, blonden Haar. Dieses Mal schlug er ihren Kopf hart gegen den Holzboden. Marie kämpfte kurz dagegen an, doch schnell fühlte sie, wie die Welt um sie herum verschwamm, als ein aufbrausender Schmerz sich in ihrem Hinterkopf breitmachte.
Irgendwo weit, weit weg war sie sich bewusst, dass er sie an der Taille packte und ihr die Hosen auszog. Dann wurde alles schwarz. Sie kam wieder zu sich, als sein Mund auf ihrem Körper umherwanderte.
Es machte keinen Sinn. Sie würde ihn so ziemlich alles mit sich machen lassen und würde, im Gegenzug, so ziemlich alles für ihn tun. Also warum …?
Der Gedanke wurde von der Dunkelheit unterbrochen, die in Wellen kam und ging. Aber dieses Mal blieb sie für eine Weile.
***
Es war arbeitsintensiver gewesen, als gedacht. Aber gegen zwei Uhr morgens war er endlich in der Lage, sich zu entspannen. Am schwersten war es gewesen, sie bewusstlos zu schlagen. Er hatte einfach nicht gedacht, das in sich zu haben. Menschen zu erwürgen war eine Sache. Dabei ging es nur darum, sich von der Tat zu überzeugen und dann Druck auf den Hals in seiner Hand auszuüben. Doch Maries Kopf gegen den Boden zu schlagen hatte mehr Durchhaltevermögen gekostet als erwartet.
Nachdem er sie bewusstlos geschlagen hatte, war die verbleibende Prozedur zwar anstrengend aber auch angenehm gewesen. Und er begann, sich mit seiner Entscheidung wohl zu fühlen.
Jo Haley und Christine Lynch hatte er unverblümt umgebracht. Mit Jo hatte er zuvor geschlafen und das Treffen äußerst genossen. Bevor es dann in die zweite Runde gegangen war, hatte er sie erwürgt. Vielleicht lag es am Sex, aber er hatte dabei fast seine Meinung geändert und den Schwanz eingezogen. Die Lektion hatte er gelernt und sich bei Christine dazu entschieden, nicht mit ihr zu schlafen. Und dann wurde ihre Leiche gefunden und er hatte die Story in den Nachrichten gesehen. Es war nur ein kurzer Impuls und gleichzeitig ein Augenöffner gewesen, der ihn dazu gebracht hatte, die Situation zu überdenken. Er konnte sie nicht einfach nur töten.
Aber er musste sie festhalten. Die, die nach Christine kamen. Die, die zum Schweigen gebracht werden mussten. Denn es gab noch mehr und Marie war eine von ihnen. Er konnte sie nicht mehr unverblümt umbringen und einfach dort liegenlassen, wo sie zu Boden gingen. Er musste umdenken, diskreter sein, vorsichtiger.
Er betrachtete seine Arbeit und war der Meinung, damit davonkommen zu können. Er stand vor dem geöffneten Jackenschrank im Flur. Marie war im Schrank. Sie war nackt und hing an ihren gefesselten Handgelenken von der Kleiderstange, die horizontal durch den Schrank verlief. Drei Streifen Klebeband bedeckten ihren Mund. Ihr Körper hing schlaff nach unten, doch ihre Arme waren über den Kopf gestreckt, wo er ihre Handgelenke zusammengebunden hatte. Es war eine merkwürdig verführerische Pose und er bereute nun, dass er nicht mit ihr geschlafen hatte, bevor er sie gefangen nahm.
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